»Daniel, komm!«
Noch immer die klatschenden Geräusche, verwischte Echos, Tropfen und Murmeln in der Ferne, hinter dem Lichtvorhang.
»Daniel, komm!«
Nebelschwaden, Schritte – jetzt ganz nah, Schleier aus silbernen Tröpfchen, riesige, schwankende Schatten.
»Daniel, komm!«
Eine Stimme rief ihn, drängte ihn, durchstieß seine Lethargie. Er drehte sich um: In der Wand hatte sich eine Spalte geöffnet, eine Kunststoffplatte, abgehoben, zur Seite geschoben, ein Arm, eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
Er versuchte aufzustehen... es gelang ihm nicht. So kroch er zur Öffnung, zwängte sich hindurch – Dämmerung um ihn herum, nur von einem Streifen an der Wand schwaches gelbliches Leuchten.
»Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag!«
»Schöner Tag heute!«
Pamela. Sie schob die Wandverkleidung an ihren Platz zurück. Sie schloß dicht. Hier gab es keinen Nebel, keine Feuchtigkeit, nur dumpfe, trockene Wärme.
»Kommen Sie, Daniel!«
»Es geht nicht – ich bin verletzt – der Fuß – verstaucht, vielleicht gebrochen.«
»Das läßt sich beheben!« Pamela beugte sich zu Daniel herab, strich ihm über das Haar, küßte ihn. »Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da!«
Er war allein. Nur eine dünne Wand trennte ihn vom Bereich der schrecklichen kleinen Menschen – es konnten keine Mutanten sein, dazu ähnelten sie einander zu sehr. Eine Wand, hart, temperaturisolierend, schallabsorbierend. Die Geräusche drangen nur gedämpft hindurch. Poltern, als stieße jemand gegen hohle Gegenstände, schrilles Geschrei aus weiter Ferne.
Wenn er sich ruhig verhielt, linderte sich der Schmerz und pochte nur noch dumpf. Daniel blickte sich um – wieder lernte er einen neuen Teil der Zentrale kennen: das Terrain hinter den glatten Wänden, hinter den Verkleidungen, hinter den Kulissen, die Zone der technischen Anlagen, den Bereich der Versorgungswege, der Kabel und Leitungen. Hier irgendwo mußten sich die Lufterneuerer befinden, die automatischen Küchen, die chemischen Anlagen. Unter seinem Knie spürte er etwas Hartes – über den Boden lief eine Schiene. Er tastete danach – ein leichtes Zittern im Metall, ein Schwingen und Vibrieren, kurze Zeit hindurch etwas stärker, dann wieder gedämpft.
Im selben Maß, wie sich die Augen an die düstere Beleuchtung gewöhnten, traten immer mehr Einzelheiten hervor. Aus den Wänden kamen umsponnene Drähte, vereinigten sich zu einem dicken Kabel, das die Wand entlanglief. Auch mehrere dicke Röhren durchzogen den schmalen Raum, einmal rauschte es irgendwo hinten im Gang, und ein dröhnendes Echo lief mehrmals hin und her.
Der Schmerz im Knöchel hatte nachgelassen. Daniel versuchte sich aufzurichten, glaubte für einen Moment, daß sich das Bein erholt hätte und sich wieder belasten ließe, doch als er vorsichtig auftrat, durchzuckte ihn wieder der heiße Schmerz, er taumelte, stützte sich an der Wand... er stieß auf Widerstand, etwas gab nach, fast wäre er gefallen... Mühsam kauerte er sich auf den Boden. Als der dröhnende Herzschlag nachgelassen hatte, sah er es. Ein Drahtende hing herab, er hatte eine Leitung abgerissen. Eine Verbindung war unterbrochen, irgendein Schalter würde nicht funktionieren, ein Ruf ohne Antwort bleiben, eine Anweisung ignoriert werden, eine Anzeige war stillgelegt, eine Kontrolle ausgefallen, irgend jemand, der irgend etwas haben, tun oder verhindern wollte, würde vergeblich warten und bemerken, daß das System doch nicht perfekt war.
Ein Geräusch aus dem Dunkel des Gangs – leise, aber rasch lauter werdend, ein schwaches Schlagen und Rollen. Etwas näherte sich, ein dunkles Gebilde, Arme mit Greifzangen, ein riesiges, blinkendes Auge...
Daniel versuchte zu fliehen. Er kroch einige Meter weiter, schleppte sich auf seinem gesunden Bein dahin – viel zu langsam.
Das Gebilde kam nicht an ihn heran, es hielt dort, wo er hereingekommen war, das Auge drehte sich, tastete rundum.
Dann bewegten sich die Gliedmaßen wie Spinnenbeine, ein konisches Gebilde, an einem Teleskoparm befestigt, wurde ausgefahren. Ein Zischen, ein pendelndes Hin und Her...
Der herabhängende Draht war entfernt worden, der konische Gerätekopf legte sich an eine Stelle der Wand, bewegte sich langsam und gleichmäßig auf einer Geraden durch die Luft, ließ einen hellbraunen Strich hinter sich zurück...
Die Leitung befand sich wieder dort, wo sie sich ehedem befunden hatte, das System war wieder vollständig, die Ordnung war wieder hergestellt. Das Gebilde – ein Robotwagen, über die Metallschiene herangeleitet. Irgendwo befand sich eine leitende Instanz, das Gehirn eines Kontrollsystems, das allgegenwärtig war. Wahrscheinlich war auch keine Anlage ausgefallen, wahrscheinlich gab es Sicherungen gegen alle Arten von Störungen – obwohl in diesem Bereich Menschen nichts zu suchen hatten.
Pamela? Was tat sie hier? Konnte man hier untertauchen? Ein eigenes Leben führen? Konnte man von hier aus Einfluß nehmen auf die Abläufe der anderen Seite? Konnte man stören, sabotieren?
Daniel hielt die Augen geschlossen, die Erschöpfung übermannte ihn, er schlief nicht, aber er war auch nicht wach, er döste vor sich hin, Gestalten zogen an ihm vorbei, Szenen der jüngsten Vergangenheit, nicht in einer logischen Folge, sondern ungeordnet, er nickte ein, ohne daß die Bilder verschwanden, schreckte auf...
Pamela stand neben ihm. Sie hatte zwei Krücken gebracht. Sie half ihm beim Aufstehen, schob die Stützen unter seine Achseln. Das kranke Bein hochgezogen, abgewinkelt, das gesunde trug ihn, stemmte er sich vorwärts, was wegen der Röhren und Kabel auf dem Boden schwierig war, kam langsam voran. Oft wurde es eng, an den Wänden hafteten Schaltungen, mechanische und chemische Apparate, Kameras, doch in Bodennähe über der Leitschiene blieb ständig ein Durchgang frei.
Es gab Kreuzungsstellen und es gab Verzweigungen, Übergänge zu tieferen Stockwerken, doch sie blieben auf ihrer Ebene. In einer Gangerweiterung hielten sie. Zwischen unverkleideten Schaltungen ein massiver Sockel, in dem es summte, auf einem Bündel schraubig gewundener Röhren einige Decken. Daniel ließ sich hineinsinken, Pamela deckte ihn zu und kniete neben ihm nieder. Auf einem Drahtnetz, das zu einer Schaltung gehörte, hatte sie einen Koffer mit medizinischen Geräten abgestellt. Sie holte einen Injektionsspray heraus und sprühte ein schmerzlinderndes Mittel ein. Dann beschäftigte sie sich mit seinem Fuß, strich mit einem Pinsel eine eiskalte Flüssigkeit darüber, kramte ein Kästchen aus, richtete einen Parabolschirm auf den Knöchel und schaltete ein. Es zog und prickelte, aber es schmerzte nicht. Daniel hatte aber die deutliche Empfindung, daß Getrenntes wieder zusammenwuchs, Knochen an Knochen, Fleisch an Fleisch.
Pamela kniete noch immer neben ihm, zu ihm hinuntergebeugt, sie legte ihre Hände an seine Wangen, seinen Hals, seine Schultern.
»Weißt du, was eine Mutter ist?« fragte sie zärtlich.
Daniel schüttelte den Kopf: »Nein.«
»Ich bin deine Mutter«, sagte sie eindringlich. »Und du bist mein Kind.«
»Ja«, antwortete Daniel.
»Du mußt mir alles sagen. Du mußt Vertrauen zu mir haben. Nur ich kann dir helfen.«
»Nur du«, sagte Daniel.
»Armer Junge«, sagte sie. »Was haben sie nur mit dir gemacht! Aber welche Schuld auch immer du auf dich geladen hast – die Mutter verzeiht alles. Das ist immer so gewesen, und wird auch immer so bleiben.«
»Ja. Ja.«
»Du bist anders als die andern, ich habe das gleich gefühlt, noch ehe ich dich erkannt habe. Aber auch die andern haben es bemerkt. Das ist der Grund dafür, daß sie dich von einer Verzweiflung in die andere jagen. Daß diese schrecklichen Dinge passieren.«
Sie schwieg, streichelte ihn, setzte von neuem an. »Ich kann dir helfen, bin die einzige, die dir helfen kann. Aber du mußt mir alles sagen. Wo bist du gewesen? Woher kommst du? Was hast du getan – draußen?«