Was hatte er getan? Er mußte es Pamela sagen, aber was war es nur?
»Warum verschweigst du mir etwas, ich meine es doch gut mit dir? Sag es, und alles ist gut?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du darfst nicht lügen, sicher weißt du es. Wer hat dir verboten zu sprechen? Es gibt keinen Grund dafür, etwas zu verschweigen. Denk daran, wie böse sie sind! Du warst schrecklich allein, das ist nun vorbei. Du wirst mir alles erzählen, nicht wahr?«
Daniel wollte ihr alles erzählen, gewiß. Er war von außen gekommen, von irgendwoher. Hatte er – vom Tag der Reife an – sein Leben in einer der Städte verbracht wie alle andern? Gab es etwas Besonderes, das mit ihm zusammenhing? In irgendeinem Winkel seines Gehirns saß das Wissen – aber es war blockiert. Gab es ein Stichwort, einen Schlüssel? Er versuchte sich zu konzentrieren, Schweiß trat auf seine Stirn. Irgendwo, irgendwas? Gab es verborgene Bereiche – Dinge, Personen, Erlebnisse? Ein phantastisches Leben, freie Beweglichkeit? Sonne, Sturm und Sterne? Freunde und Feinde? Aufgaben und Ziele? Er merkte, daß er nahe herangekommen war.
»Da gab es...«
»Was gab es? Sag es, Liebling!« Pamelas Hand auf seiner Stirn, ihr Gesicht über dem seinen, der Ausdruck in ihren Augen...
Er hatte die Fährte verloren. Vergeblich. »Ich weiß nichts!«
»Das ist aber sehr böse von dir! Ich werde dich strafen müssen. Ich werde dir weh tun, schau so!« Sie schaltete den Apparat ab, von dem die heilende Strahlung in sein Bein gedrungen war. »Die Wirkung der Injektion hält nur kurz an! Dein Fuß ist noch nicht geheilt; genau genommen: Er ist kaputt wie zuvor, gebrochen. Spürst du es?« Sie richtete sich ein wenig auf, und die Hand, die eben noch zärtlich seine Brust gestreichelt hatte, faßte nun den Fußrist und drehte kurz zur Seite. Der Schmerz lebte auf, unverzüglich, stärker als zuvor.
»Und so!« Sie drehte ruckartig nach der anderen Seite, er versuchte, das Bein mitzudrehen, aber das gelang ihm nur beschränkt. Sie machte die Bewegung mit, drückte, bis sie den Widerstand der Sehnen und Bänder fühlte, und hebelte dann langsam auf und ab.
»Pamela, bitte nicht. Es tut schrecklich weh!« keuchte er.
»Du mußt mir alles sagen! Dann höre ich sofort auf.«
»Aber ich weiß doch nichts! Ich weiß nichts...« Er schluchzte verzweifelt auf.
»Sie sind wirklich ein harter Brocken«, sagte Pamela. Sie ließ den Fuß plötzlich los, und sein Zurückschnellen trieb den Schmerz noch einmal auf die Spitze. Es wurde dunkel um ihn, einen Atemzug lang, er spürte leise Erschütterung... Als er die Augen öffnete, hatte sich die Umgebung geändert. Noch immer lag er auf den Decken, aber er befand sich auf einem Tisch, und rundherum standen Menschen: Solla, Fenner, dessen Kollege, Figueira, Miriam und der dunkelhaarige Unbekannte, der seine Tasche geraubt hatte.
»Stefano, zeig ihm die Tasche!« befahl Pamela.
Der Dunkelhaarige trat vor, hielt etwas hoch.
»Sie haben meine Tasche«, sagte Daniel.
»Ja. Man hat Ihnen ein Duplikat gegeben. Wir haben die echte Tasche. Und wir haben auch das, was drin ist.«
»Was ist es?« Trotz seiner Verwirrung war das Interesse an seiner Vergangenheit nicht erloschen – und wäre es auch nur deshalb, um Pamela endlich alles erzählen zu können. Denn dann hätte er Ruhe...
»Sie wissen es wirklich nicht?«
»Nein.«
»Zeig es ihm!«
Stefano griff hinein, zog einen Zettel heraus, hielt ihn Daniel vor die Augen. Daniel las:
Pavel 106
Greg 109
Josef 183
Tibor 165
Sonja 185
Dan 182
Notruf 200
Er ließ die Namen auf sich wirken. Ja, sie weckten Erinnerungen. Sie waren der Schlüssel. Doch wozu? Es lag lange zurück, durch Welten getrennt. Namen, Nummern, ein Leben voll Abenteuer...
Der Schlüssel sperrte nicht, die Namen gewannen nicht Gestalt. Sie wühlten nur Gefühle auf – Hoffnung, Furcht, Spannung, Eifersucht. Was damit verbunden war, blieb dunkel. Umsonst.
»Was sagen Ihnen diese Namen?«
Daniel zuckte die Schultern und drehte den Kopf zur Seite.
»Ob er wirklich nichts weiß?«
»Jetzt können wir keine Rücksicht mehr nehmen!«
»Dann versuchen Sie es bitte.«
Daniel spürte, wie sein Arm aufgehoben wurde... das Zischen einer Injektion. Leere...
Tappende Schritte im Ungewissen, lauter Atem, unmittelbar neben ihm. Der Nebel spuckte seine blassen Geschöpfe aus.
Daniel wehrte sich nicht, als ihn zwei Primis unterfaßten und davontrugen.
Lange hielt er die Augen geschlossen... wenn er sie öffnete, stets das gleiche Bild, nebelerfüllte Gänge, grelle Lampen hinter einem Schleier wirbelnder Tröpfchen. Daniel fühlte, daß man ihn niederließ auf eine weiche Unterlage, eine Flüssigkeit schwappte neben ihm, stieg... er lag in einer Wanne, die sich lautlos füllte. Die träge schwankende, bräunliche Masse umspielte seinen Rücken, benetzte die Haare, stieg über seine Ohren... die Geräusche von außen, das Klatschen und Schleifen, Tropfen und Rieseln, das dumpfe Hallen und das ferne, schrille Geschrei verstummte. Statt dessen ein Knistern, hin und wieder metallene Laute, Gongschlägen ähnlich. Die Flüssigkeit stieg weiter, erreichte die Wangen, den Mund, sickerte zwischen den Lippen einwärts – fader, aber nicht unangenehmer Geschmack –, bedeckte die Augen, die er offenhielt... es war eine weiche Last, sanft und lindernd, nichts Fremdes, gegen das man sich wehren mußte, bewahrende Essenz... er spürte es, als das Naß seine Nasenlöcher erreichte, bedeckte. Ein wenig davon sickerte einwärts, ohne Reize auszulösen... Er konnte die Flüssigkeit atmen.
Alle Reize von außen waren aufgelöst. Er lauschte in sich hinein, jetzt hatte er Zeit dazu... ein langsames, dumpfes Pochen, Spiel von Ventilen, Verlagerungen, Pulsationen, Rhythmen...
Die ganze Welt war jetzt in ihm...
Larry hatte ihm geraten, zur Rezeption zu gehen, das Vorkommnis zu schildern, sich zu erkundigen, ob er eine Ersatznummer und einen kleinen Vorrat Rechenzeit bekommen könnte, zur Fortsetzung seiner Arbeit, doch dort hatte man nur ein Achselzucken für ihn. »Für diesen Fall gibt es keine Vorschriften. Sie müssen sehen, daß Sie Marken und Bons zurückkriegen, dann können wir weitersehen.«
»Dann brauchte ich Ihre Hilfe nicht mehr«, entgegnete Daniel. Es wurde ihm immer deutlicher, daß er ohne Kennmarke und ohne Rechenzeit keine Existenzberechtigung mehr hatte.
Er ging zu Larry zurück, der zuerst ein wenig ungehalten über die neuerliche Störung schien, dann aber Maud und Benedikt zu einer Besprechung bat.
Sie trafen sich in jenem Raum, in dem er Larry und Benedikt kennengelernt hatte. Zu Daniels Erstaunen war noch jemand dabei: der junge Mann, den er gestern auf seinem Platz angetroffen hatte. Benedikt stellte ihn vor – er hieß Gunnar, Gunnar 037 quer 170 quer 155.
»Meine Nummer!« sagte Daniel.
»Sie müssen verstehen«, sagte Benedikt, »wir sind in einer peinlichen Lage. Gunnar wurde uns zugeteilt – er gehört jetzt unserem Team an.«
»Und ich?«
»Bedauerlicherweise sind Umstände eingetreten, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen. Sie wissen es ja selbst am besten. Es ist eine außerordentlich unglückliche Verwicklung, in die Sie hineingeraten sind. Unter anderen Umständen hätten wir jahrzehntelang zusammenarbeiten können. Ich kann Sie allerdings nicht von jeder Schuld freisprechen: Sie haben unüberlegt gehandelt.«
Erst nach und nach dämmerte es Daniel, wie schwer ihn das Unglück getroffen hatte. Er mühte sich, alles zu erklären, aber ohne Erfolg, er versicherte, er hätte sich in einer Zwangslage befunden, hätte keine Wahl gehabt, nicht anders handeln können, wäre sich der Folgen nicht bewußt gewesen, sei selbst am meisten überrascht, wäre betäubt worden, nicht Herr seiner Sinne gewesen, hätte doch keine schlechte Absicht gehabt, sei unschuldig, wolle alles tun, um die Angelegenheit zu bereinigen, werde künftig sicherlich klüger handeln, hätte durch sein Mißgeschick gelernt, würde größten Wert darauf legen, bei ihnen zu bleiben, hätte sich schon eingearbeitet, könnte ihnen bei ihrer Arbeit nützlich sein. Er bat sie, nicht unerbittlich zu sein, nur dieses eine Mal eine Ausnahme zu machen, ihm zu glauben, daß er sich dankbar erweisen würde und daß es niemand geben könne – außer er hätte ähnliches erlebt wie er –, der sich so für sie einsetzen, der alle persönlichen Interessen hintanstellen würde, wenn einmal der Fall einträte, daß einer von ihnen – was doch geschehen könnte – der rückhaltlosen Hilfe eines andern bedürfe.