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Die andern blickten sich verlegen an.

»Was können wir tun?« fragte Larry.

»Nichts«, antwortete Benedikt. »Wir haben alles getan, was wir tun konnten, haben uns bemüht – ich will gar nicht davon sprechen, daß die Lage auch für uns nicht angenehm ist, man wird über uns reden, ein Schatten fällt immer in die Umgebung.«

Er schwieg. Da sich Daniel nicht rührte, bat er Maud: »Begleite ihn hinaus!«

Maud stand auf – sie blickte Daniel mitleidig an, und dieses Bedauern war beschämender als alles andere. Er stand auf, wandte sich an Benedikt: »Ich darf wohl diese Räume nicht mehr betreten.«

»Leider nein. Wir hoffen, Sie hatten einen schönen Tag!«

»Schöner Tag heute«, murmelte Daniel. Er folgte Maud bis zum Eingang. Das Kontrollsystem prüfte Mauds Marke – die Tür öffnete sich.

»Schade«, sagte Maud, »daß wir so auseinandergehen müssen. Oder wollen Sie noch einmal mit mir schlafen?«

»Danke«, sagte Daniel. »Ich hoffe, Sie haben einen schönen Tag!«

»Das hoffe ich auch!« antwortete Maud. Sie trat zurück. Die Schiebetür schloß sich.

*

Daniel hatte keinen Wohnraum mehr und keinen Arbeitsplatz. Trotzdem brauchte er keine Not zu leiden. An den Theken bekam er Kauwürfel und Getränke, Aktivierungspillen und Riechkapseln, in den Projektionsräumen konnte er die Spiele verfolgen, am liebsten saß er im obersten Stockwerk, direkt unter dem durchsichtigen Dach, das die Zentrale von der Außenwelt, vom Meer trennte. Oft streifte er stundenlang durch die Gänge, und so lang sie auch, alle zusammengenommen, waren, so hatte er doch den Eindruck, sie schon alle zu kennen, aber das mochte auch daran liegen, daß sie alle gleich aussahen. Am Anfang hatte er gelegentlich ein Mädchen angesprochen und es so einzurichten verstanden, daß sie auf ihr Zimmer gingen, aber später lehnten immer mehr ab, ließen sich gar nicht auf einen Flirt ein, mieden ihn – es sah so aus, als verändere er sich in irgendeiner unheimlichen Weise, als zeichne sich ein Makel an ihm ab.

Wer nichts zu tun hat, wer nur wartet, daß die Zeit vergeht, bemerkt und empfindet anders als jene, die, ständig gehetzt, ihren Arbeiten und Vergnügungen nachjagen. Sein Zuhause war jetzt das Skelett der Gänge und Aufenthaltsräume, doch gerade deshalb konnte er sich auch ein besseres Bild machen vom Geschehen, das sich hinter den Wänden abspielte. Manche waren durchsichtig, und er lehnte sich daran, das Gesicht ans Glas gepreßt, und sah dem Treiben zu. Aber auch die undurchsichtigen Wände gaben Geheimnisse preis, man hörte Geräusche, fühlte dumpfes Vibrieren, sah die Menschen, die aus den Türen traten oder hinter ihnen verschwanden. Er beobachtete sie, verfolgte sie, schlüsselte ihren Zeitplan auf, und so mußten ihm solche auffallen, die keinen Zeitplan hatten, die umherstrichen wie er. Es waren nur wenige. An ihnen sah er auch, was die Ausgeschlossenen von den andern unterschied: Sie alterten, und zwar alterten sie unwiderruflich – die Haut faltete sich, die Wirbelsäule krümmte sich, die Hände begannen zu zittern, die Stimme brach.

Einem von ihnen, einem kleinen Mann mit eisgrauem, ungeschnittenem Haar und einem Gesicht, in dem die Runzeln ein dichtes Spinnenmuster bildeten, begegnete er öfter als den anderen. Es sah so aus, als ob jeder von ihnen danach trachtete, die Wege des anderen zu kreuzen. Dennoch dauerte es Wochen, bis er mit einem ins Gespräch kam.

Zuerst sprachen sie über die Getränke, über die Riechkapseln, über die Bequemlichkeit der Stühle, in denen sie schliefen, wenn sie müde waren – sitzend, um nicht aufzufallen. Erst später kamen sie auf ihre Situation.

»Wie lang sind Sie schon ausgeschlossen?« fragte Daniel.

»Ich habe die Jahre nicht gezählt – vielleicht zwanzig Jahre, vielleicht vierzig, ich denke nicht darüber nach. Viel mehr beschäftigt mich die Frage, wie lange ich mich noch halten kann. Aber was auch immer geschieht – die Integration bleibt keinem erspart.«

»Wenn man nicht einverstanden ist...«

»Solange ich denken und sprechen kann, weigere ich mich. Sobald ich aber einen Defekt erleide, der mir diese Möglichkeit nimmt, müssen andere für mich entscheiden. Dann bleibt sowieso keine andere Wahl. Das System ist darauf angelegt, daß es Leben erhält.«

»Ich werde von Tag zu Tag müder, es ist kaum zu glauben, daß uns ein neuer Anfang bevorsteht. Gibt es keine Möglichkeit, diese Situation zu beenden?«

»Doch, eine besteht: die freiwillige Integration. Sie können sich jederzeit melden: 010 quer 010 quer 001. Dort würde man Sie mit Freuden aufnehmen.«

»Wissen Sie Näheres darüber? Hat man noch Gefühle? Hat man noch das Bewußtsein seiner selbst?«

»Ich weiß es nicht, doch ich werde es früh genug erfahren. Und Sie auch.«

Der Alte stand mühsam auf und verschwand mit schleifenden Schritten in der Tiefe des Ganges.

Daniel merkte, daß er gebrechlicher und schwächer wurde. Auf Krücken gestützt, schleppte er sich durch die endlosen Gänge, wenn er erschöpft war, ließ er sich auf eine Bank oder einen Stuhl sinken, die überall zu finden waren, starrte ins Leere, sah die Menschen nicht, die an ihm vorübergingen, und nichts von den Farbspielen an den Projektionswänden. Schlief kurz ein, erwachte, wanderte weiter, setzte sich, trank ein paar Schluck Bier-blau, schlief, wanderte...

Dabei grübelte er ununterbrochen nach. Sein Denken funktionierte noch. Allmählich reifte in ihm ein Plan. Je mehr er Profil gewann, um so weniger kam es ihm vor, als wäre er ein Resultat seiner Überlegungen, eher hatte es den Anschein, als sickerte etwas aus seinem Unterbewußtsein durch, nur langsam, nach und nach, das aber doch allmählich ein Ganzes wurde, schwer auszudrücken, in den Konsequenzen unbestimmt, aber durchführbar und notwenig.

Er zögerte noch lange. Selbst als der Entschluß feststand, hatte er keine Eile, blieb noch tagelang in den Gängen, durchstreifte alle Winkel, als wolle er sich den Plan der Wege in diesem komplizierten Bauwerk einprägen.

Oft saß er in einer Art Warteraum, einer Halle, leer bis auf einige wahllos verteilte Stühle, und blickte unentwegt zu einer Tür, durch die einige – nicht viele – hineingegangen, doch keiner wieder herausgekommen war.

Eines Tages stand er auf, stemmte sich auf die Krücken und ging, ohne anzuhalten, ohne sich umzusehen, auf die Tür zu.

Seit Wochen hatte sich ihm keine Tür mehr geöffnet. Diese öffnete sich. Er ging unbeirrt weiter. Sie schloß sich hinter ihm, doch er bemerkte es nicht.

Er ging durch einen endlosen Gang, langsam... wenn er je Zeit gehabt hatte, dann jetzt.

Der Gang war zu Ende. Der Raum, der nun vor ihm lag, war riesengroß. Die gegenüberliegende Wand nicht zu erkennen, die Decke von blendendem Licht erfüllt. Vor ihm eine Wasserfläche – leuchtend grün, unbewegt. Man konnte tief hineinsehen. Dort unten schimmerte es hell – ein weißes Gebilde lag dort unten, verzweigt, verästelt, ein riesengroßes Gewächs, einer Korallenbank ähnlich. Zuerst verwirrend in seiner Vielfalt, dann lösten sich allmählich Ordnungen heraus, Symmetrien, Reihungen, Varianten. Eines wurde bald klar: Dieses Muster war nach einem bestimmten Plan entworfen, es besaß eine Gesetzlichkeit, die immer weitere Entwicklungen zuließ, ohne daß die Ordnung gestört wurde.