Daniel stand auf einer Terrasse, die sich nach beiden Seiten fortsetzte. Er wandte sich zur Seite. Auf einem Rollstuhl saß ein alter Mann, ein Kyborg. Daniel kannte ihn. Er hatte noch nie mit ihm gesprochen, hatte ihn aber zweimal auf den Projektionsschirmen gesehen.
»Sind Sie fest entschlossen?« fragte er.
»Ja, das bin ich«, antwortete Daniel.
Durch eine Bewegung des Kinns deutete der Alte hinab. »Kommt es Ihnen unmenschlich vor?«
»Ich wußte nicht, daß es unter Wasser liegt«, antwortete Daniel.
»Nährlösung, die einfachste Art, das Materialproblem zu lösen, und zugleich das älteste Verfahren. Und Licht«, – er blickte kurz nach oben, »Wärmestrahlung, sichtbares Licht, starker UV-Anteil – die Lösung des Energieproblems.«
»Ist es eine Schaltung oder ein Lebewesen?«
»Ich würde sagen: beides. Wie wollen Sie es unterscheiden?«
»Steht es mit dem Schaltnetz der Zentrale in Verbindung?«
»Es ist sein Gehirn, oder, besser, sein Neuhirn.«
»Wer hat es konstruiert?«
»Niemand hat es konstruiert. Wir haben ihm Gelegenheit zum Entstehen gegeben. Keinen Bauplan, sondern gewisse allgemeine Zielvorschriften, für die es selbst die Wege sucht. Es entwickelt sich längst allein weiter.«
»Wie geben Sie ihm meine Daten ein?«
»Wir gehen über einen normalen molekularelektronischen Speicher. Er steht mit allen Speichern in Verbindung.«
»Bleibt meine Persönlichkeit erhalten?«
»Gewiß – die Persönlichkeit ist das Aggregat aller Daten. Sie bleibt nicht nur bestehen – es ist die einzige Möglichkeit, sie dauernd zu erhalten.«
»Mein Bewußtsein? Meine Integrität?«
»Bewußtsein ist keine energetische, sondern eine informationelle Größe – es bleibt Ihnen. Die Integrität – nichts anderes als eine Vorschrift für die Zusammengehörigkeit der Daten.«
»Meine Abgeschlossenheit, meine private Sphäre?«
»Überflüssig. Überbleibsel aus der Steinzeit. Wozu abschließen, wozu Geheimnisse? Behielten wir sie bei, so wäre die Integration nur ein Mittel zur Konservierung. Gerade in der Öffnung, der Ausbreitung, liegt der Übergang zur nächsthöheren Entwicklungsstufe. Sie geben, aber Sie erhalten weit mehr: Verfügung über die gesamte gespeicherte Information, Zugang zu sämtlichen motorischen Zentren, Zugang zu allen Ein- und Ausgabekanälen, und diese reichen bis in die Weiten des Weltraums.«
»Gibt es keine Grenzen?«
»Doch, die Grenzen der Physik. Sie können nicht in atomare Dimensionen eindringen. Sie können keine Quantensprünge vorhersagen, Sie können die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Und doch können Sie mehr, als Menschen je konnten. Sie haben keinen schwachen, zerbrechlichen, leicht verletzlichen, kurzlebigen Körper mehr. Ihr Selbst ist über weite Bereiche verteilt und doch ein Ganzes. Und es ist unverletzlich.«
»Werde ich noch fühlen können?«
»Aber ja – auch Gefühle sind informationelle Größen.«
»Und dieser Körper?« Daniel sah an sich hinab – ein Bündel Haut und Knochen, ausgemergelt, schrottreif. Nur das Gehirn war intakt... Allmählich erkannte er, daß er sich schrecklich getäuscht hatte. Würde er an diesen Körper herankommen, würde man es ihm erlauben, würde er es noch wollen?
Der alte Kyborg lächelte mild. »Staub wird zu Staub, und Asche zu Asche.«
Daniel war entschlossen, den Schritt zu tun, selbst wenn noch die Möglichkeit bestanden hätte zurückzukehren. Er hoffte nur, daß sich eines nicht wiederholen würde, was ihm bisher bei jeder entscheidenden Veränderung in seinem Leben geblüht hatte: eine Zeit der Leere, eine Zeit des Unvermögens. Aber er wagte nicht zu fragen. Das war sein Risiko.
Der Kyborg berührte ihn am Ärmel seines zerschlissenen Gewandes. »Kommen Sie!«
Er glitt neben Daniel her, ein Stück in den Gang zurück und dann in eine Türöffnung, von der Daniel vorher nichts bemerkt hatte.
Er hatte Angst. Er hätte um eine Pille GLORIOL bitten können oder um ein Glas Bier-blau, aber er wollte lieber diese Angst auf sich nehmen, als den letzten Schritt im Zustand der Betäubung tun.
Sie kamen in einen Raum, in dessen Mitte eine Liege stand. Die Seitenwände waren leer, bis auf einige Schalttafeln und Anzeigelampen. Die gegenüberliegende Wand war offen, aber völlig von einer Maschine ausgefüllt – Leitungen, Röhren, Gefäße, Tasten, Hebel, Sonden; hier gab es keine Verkleidung mehr.
»Legen Sie sich hin!« bat der Kyborg. Schritt für Schritt, auf die Krücken gestützt, näherte sich Daniel der Liege – eine einfache, schmale Unterlage, mit Schaumstoff gepolstert, auf eine Schiene gestellt, die zur Maschinerie im Hintergrund führte. Der Kyborg fuhr noch einige Meter weiter mit, blieb dann zurück.
Daniel ging weiter, trat an die Liege, ließ sich zur Seite gleiten. Die Krücken polterten zu Boden.
»Alles Gute«, sagte der Kyborg. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Auch Ihnen einen schönen Tag«, antwortete Daniel. Er spürte, wie die Liege sich in Bewegung setzte. Er blinzelte in das Lichtmuster an der Decke, dann schob sich die Wand näher an die Maschinerie. Er hatte unbeschreibliche Angst. Eigentlich sollte ich Hoffnung haben, dachte er.
Ein Schatten über seinem Kopf – durch eine Öffnung inmitten der Leitungen und Röhren glitt er ins Innere. Ein metallisches Netz über seinem Kopf. Eine kalte Berührung an den Schläfen. Ein Summen. Dann nichts mehr.
Obwohl er sich ein körperloses Erwachen nie hatte vorstellen können, erschien es ihm nun selbstverständlich. Oder sollte man sagen: Ein Leben endete, ein anderes begann? Es begann dort, wo das andere aufgehört hatte, wenn auch in anderer Weise, und setzte somit eine Kontinuität fort. Was anderes ist diese Kontinuität als jene der Erinnerungen? Welches Kriterium gilt, als das der chronologischen Folge, der kausalen Logik? Oder sitzt die Persönlichkeit im Körperlichen, in einem Chemikal? Oder in einem Fluidum der Metaphysik, einer bisher nicht nachgewiesenen Seele?
Kurz und gut: Er setzte das Leben eines gewissen Daniel fort, der einst die Nummer 037 quer 170 quer 155 gehabt hatte und nicht wußte, woher er kam. Er – jetzt ein Datenaggregat.
Ein Einfalclass="underline" War die Information in einem Winkel seines Gehirns wirklich noch intakt gewesen, wenn auch durch einen Block gesperrt, so mußte sie mit übertragen worden und zugänglich sein. Aber wie? Es wurden dieselben Gruppierungen übernommen, ein Block war eine Vorschrift, ein NICHT-Operator für einen durch Adressen festgelegten Bereich. Doch jetzt, da er über die Funktion seines Denkens Übersicht hatte – er wußte nicht, wie – vermochte er auch die Sperre aufzuheben. Er brauchte es nur zu denken, und schon war die Vergangenheit wieder zugänglich. Er fühlte ein Staunen (es gab Gefühle!), und er erkannte die Folgerichtigkeit dessen, was er erlebt hatte.
Aber warum ließ man das alles zu: Unzulänglichkeit, physische Beeinflussung, Irrtümer, Mißverständnisse, Intrigen, Sabotage?
Die Antwort kam unvermittelt: Das Prinzip der Freizügigkeit. Es bestand seit der Existenz der sich selbst weiterentwickelnden Rechenmaschine. Es war eine Art Abkommen: Das System hat die Möglichkeit, sich ungestört, nach Maßgabe des eigenen Vermögens, selbständig zu entwickeln. Als Gegenleistung steuert es die technischen Dienstleistungen für den Menschen nach dessen eigenem Willen. Es tut nichts gegen dessen Wunsch, sofern nicht andere dadurch geschädigt werden. Und: Es bietet die Möglichkeit zur Integration. Zum ewigen Leben.
Irrtümer? Intrigen? Solange kein Schaden entsteht, greift es nicht ein. Ein gewisses Maß an Störung ist nötig. Es fördert die Entfaltung. Sinkt es unter einen Mindestpegel, so sind Störungen künstlich herbeizuführen.