Abend. Die Befragung war zu Ende.
Dan starrte an die makellos saubere Decke – grün getönt, nach den Richtlinien der Psychologen. Es waren die Zweifel, die ihn nicht schlafen ließen.
Die Besetzung – ein Erfolg?
So hatten sie es bekannt gegeben, aber es war zu einfach, und sie wußten es, oder sie ahnten es zumindest. Hatten auch sie Zweifel? Waren sie anders ausgebildet? Kritisch, skeptisch, argwöhnisch? Hatten sie andere Vorstellungen vom perfekten Menschen? Oder gab es viele Arten von Perfektion?
War die anerzogene Sicherheit nur Mittel zum Zweck? Lehrte man anderen das Zweifeln? Braucht man unterschiedliche Charaktere in einem System? Züchtet man auch Unruhestifter und Verbrecher? Waren auch diese mit sich selbst zufrieden? Gab es Dimensionen der Psyche, die ihm verschlossen waren? Konnte er sich noch umstellen? Konnte er ein Stadium erreichen, in dem er über allen diesen Möglichkeiten stand? Und wie konnte er dieses Stadium erreichen – von hier aus, seinem Gefängnis?
Die Besetzung der Zone Null – ein Erfolg. Die Einwohner degeneriert, ausgestorben. Ihre Technik sinnlos, jetzt zerstört. Der Weg zur Weiterentwicklung abgeschnitten. Oder: War es die Freie Welt, die den statischen Zustand konservierte und die Tore zur Entfaltung verschlossen hielt? Gehört das Risiko zum Fortschritt, und soll man es auf sich nehmen? Und zu welchem Zweck?
Gewinnmaximierung optimale Effizienz perfekte Funktionalität
Einheit von Körper und Geist
Konkordanz
Harmonie der Emotionen
Gefüge, Netze, Graphen, Funktionen, Systeme beschreibbar durch Zahlen mathematisierbar quantifizierbar schematisierbar automatisierbar verifizierbar...
Jedes Problem läßt sich stellen, aufbereiten, lösen, doch stets bleibt die Entscheidung offen: Was soll man optimieren? Was ist das Ziel? die Technik? die Partei? die Gesellschaft? der Mensch?
Regelkreise, Wirkungsgefüge, Abhängigkeiten, feedback, Einschwingvorgänge, polydirektionale Information, hochkomplexe Systeme, Symbiose Mensch-Maschine... transparent oder transparent zu machen, zu differenzieren und zu integrieren, zu analysieren und zu synthetisieren... keine logischen Schwierigkeiten, jedenfalls keine prinzipiellen... Wahrscheinlichkeiten, Strukturredundanz, irreversible Prozesse, Maschen, Schleifen, Sackgassen, das Weltgeschehen als Entropieprozeß, Urknall und Wärmetod, Aggregation und Evolution, Zeit und Antizeit, Periodizitäten, Antimonien, aber was nutzt das, wer fordert das Resultat, kommen wir so weiter, laufen wir im Kreise, wer deutet die Antwort, wem nützt das Ergebnis? Wir können alles, aber wir wissen nicht wozu...
Ich habe mich nicht mehr in der Gewalt, sagte sich Dan. Habe ich mich verändert? Bin ich nicht mehr derselbe? Finde ich noch zu mir zurück? Ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich muß kühl bleiben, das ist die Methode, die ich beherrsche, die Situation nüchtern durchdenken...
Die Besetzung... ein Erfolg?
Sie hatten Land gewonnen, Luftraum, Berge, Flüsse, Sand, zerfallene Gebäude, Bodenschätze, Siedlungsgebiet, noch war es leer, doch das Programm lief an, würde zum Ziel führen, doch was dann?
Sie hatten schon mehrere Städte besetzt, moderne Kuppelbauten, primitive Siedlungen, hatten sie einbezogen in ihre Organisation, die Menschen zu gewinnen versucht und gewonnen...
Sie waren in neue Bereiche gedrungen, waren darauf eingestellt, in neue Bereiche einzudringen, aber es waren nur Landstriche gewesen, Gebirge, Täler, Inseln, mit Grenzen und Ufern, Flecken auf der Landkarte, Räume, absteckbar, mit dem Metermaß meßbar, zu kartographieren...
Sie hatten fremdartige Menschen kennengelernt (aber waren sie wirklich so fremdartig?), hatten seltsame Gebräuche studiert (aber waren sie wirklich so seltsam?), Ungewohntes gesehen, Unwahrscheinliches festgestellt, aber nichts, was Probleme aufwarf, nichts, was Bedenken auslöste, nichts, was Zweifel aufkommen ließ...
Die Invasion – ein Erfolg?
Sie hatten das Land besetzt, aber nur einen Teil des Raums, in den sie eingedrungen waren. Das Problem war nicht das Land mit seinen Gegenständen – das Problem lag in Bereichen, die nicht mit dem Meterstab aufzugliedern oder mit der Waage zu gewichten waren. Es lag in der Art des Denkens, im Raum des Wissens, in der Kenntnis von Möglichkeiten, die außerhalb historischer Kategorien liegen. Hier ist der Ort der Auseinandersetzung, hier die Stelle des Eingriffs, und hier hatten sie versagt – nichts von dem bemerkt, was unter der Oberfläche lag:
Die Zone Null war kein materieller Bereich.
Oder hatten sie es bemerkt und einen perfekten Rückzug vollzogen? War er die Störungsquelle im Fluchtplan, und ging es darum, diese Quelle zum Versiegen zu bringen?
Konnte er dem Gleichgewicht schaden?
Er, ein einzelner, abgeschlossen, abgeschirmt, ohne Freunde, ohne Schutz?
Daß sie ihn so sorgfältig hüteten, deutete auf das Gegenteil. Und es lag nahe: Er besaß das Wissen. Er hatte keine Aufzeichnungen und keine Tagebücher, keine Mikrofilme und keine Tonbänder, aber er trug das gesamte Material in seinem Gehirn, und dieses Material kann so gefährlich sein wie ein Funke. Wissen ist der gefährlichste Explosivstoff. Eine Erfindung, die Kenntnis eines Zusammenhangs – und schon wandert die Wirkung in die Umgebung, einer Stoßwelle gleich, wühlt auf, sucht Widerstand, erntet Begeisterung... eine Methode wird aufgegriffen, erprobt, verbessert, nachgeahmt, eine Idee bricht sich Bahn, weist Richtungen, reißt ein und baut auf...
Er war eine potentielle Gefahr.
Jetzt, da er es einsah, fühlte er Angst in sich hochsteigen, doch sie lähmte ihn nicht, sondern spornte ihn an.
Der einzige Weg führte durch den Schutt bergauf. Er versuchte es erst in der Mitte der Halde, doch dabei war ihm das Glück nicht gewogen – sofort kamen die lockeren Massen in Bewegung, und er hatte Mühe, rechtzeitig beiseite zu springen, wenn größere Trümmer herabpolterten. Staubfontänen wirbelten auf und trübten das spärliche Licht. Er wiederholte den Versuch an anderer Stelle, seitlich, die Wand entlang, versetzte auch von hier aus Bruchstücke in Bewegung, doch sie rollten und glitten gegen die Mitte und gefährdeten ihn nicht. Dennoch rutschte er immer wieder aus, die Massen lagen locker, waren viel leichter als Gestein, so daß der geringste Anlaß genügte, sie in Bewegung zu versetzen.
Es waren über zehn Meter zu überwinden. Mit einem Sprung erreichte Dan die Deckenkante der nächsten Zwischenetage und brachte damit die ganze Halde in Bewegung. Er griff mit beiden Händen zu und klammerte sich fest, doch er hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, überdies regneten nun auch noch von oben Scherben auf ihn herab, und der Staub behinderte seinen Atem.
Mit einem Klimmzug zog er sich hoch, winkelte einen Ellbogen ab, brachte ein Bein hoch, konnte sich hinaufschwingen. Er beeilte sich, vom Rand der Decke wegzukommen, doch hier oben war es düster, er stolperte und stürzte in einen Haufen verbogener Metallstäbe.
Er zog das Sendegerät aus der Brusttasche, kippte den Schalter, ein Summen – das Gerät arbeitete noch.
»Hallo, Sonja, hier spricht Dan. Hörst du mich? Ich gehe auf Empfang!«
»Hallo, Dan, wir rufen dich, peile unsern Sender an, folge der Richtung, hallo Dan...«
Sie schien ihn nicht zu hören, aber die vertraute Stimme gab ihm Mut.
Dan sah sich um – hier brannte nur noch eine einzige Röhre, und sie schien beschädigt zu sein; in unregelmäßigen Abständen goß sie ihr fahlweißes Licht aus, dann erlosch sie wieder für einige Sekunden. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die mangelhafte Beleuchtung gewöhnt hatte. Obwohl auch hier Schuttberge lagen, schien es nach mehreren Seiten weiterzugehen, doch für Dan war es wichtiger, höher hinauf zu gelangen. Auf diese Weise mußte er früher oder später aus dem Gebäudekomplex hinauskommen, und dann hatte er das Ärgste hinter sich. Dieser Raum bot keine Möglichkeit dazu, und darum begann er, die Nachbarräume zu durchforschen. Jetzt machte es sich übel bemerkbar, daß es hier keine Treppen gab, sondern nur Aufzüge. An einer Stelle war die Wand durchbrochen und das Stützgerät freigelegt, man sah geknickte Röhren und zerrissene Kabel, Schienen, Teile von Förderanlagen. Dan fand einen herabhängenden Kabelstrang und kletterte in die Höhe. Es war leichter, als er gedacht hatte, er konnte sich an Querstreben abstützen, doch stürzte er fast in die Tiefe, als das Kabel plötzlich nachgab und um zwei Meter absackte.