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Dann ertastete er vor sich ein Hindernis, eine Querstrebe, die ihm den Weg versperrte, und ohne Rücksicht darauf, unter herabstürzenden Massen begraben zu werden, riß und zerrte er daran... sie ließ sich beiseiterücken... eine harte Kante drückte sich schmerzhaft in seinen Rücken – dazwischen Sonjas Stimme: »... wir rufen dich...« – er stemmte sich gegen die Last, der Druck ließ nach... oben fahles Licht, ein unregelmäßig gezackter grauer Fleck, er stemmte sich hoch –, überwand die Enge, wand sich hinaus...

Er stand in einer zerstörten Halle, deren Ausmaße nicht überblickbar waren. Keine Menschen. Das Licht kam von rechts oben – hier bestand direkte Verbindung mit dem freien Außenraum.

Sonjas Stimme war jetzt so laut, daß die Geräusche aus dem Lautsprecher mitunter in knackendes Röcheln umschlugen.

Dan regelte die Lautstärke tiefer. Er wartete, bis sich sein dampfender Körper ein wenig beruhigt hatte. Dann hob er den Sender und änderte die Richtung der Antenne... horchte... stieg vorsichtig über den Schutt hinweg... nun wies die Antenne schräg gegen den Boden.

Er bückte sich... ein Block aus Schaumstoff... er hob ihn: ein grünleuchtendes Abstimmauge, daneben regte sich etwas – eine Tonbandschleife lief über den Teller eines Magnetophons, daneben, durch ein Kabel verbunden, der Sender.

Dan schaltete ihn aus. Sein Blick fiel auf eine Mappe, die halb unter den Trümmern begraben war. Er hob sie auf und öffnete sie.

*

Ihre Gesichter waren verschlossen, sie fragten gleichgültig, uninteressiert, oft schien es, als hörten sie seinen Antworten nicht zu, wären in Gedanken schon bei der nächsten Frage, bemüht, ein langwieriges und unergiebiges Programm möglichst schnell durchzuziehen, sich der Aufgabe, die von vornherein keine Aussicht auf Erfolg bot, korrekt zu entledigen.

Nie horchten sie auf, nie waren sie überrascht, es schien, als wüßten sie seine Antworten vorn vornherein, als wäre dies alles nur die überflüssige Wiederholung einer längst beherrschten Testroutine, nur eine lästige, wenn auch nötige Arbeit.

Nötig – wozu? durchleuchten examinieren Check-Listen durchgehen vergleichen validieren Experiment am lebenden Material auswerten benoten freigeben, sperren...

Das war die Aufgabe – wie bei den Autopiloten der Flugzeuge, den Druckkesseln der Reaktoren, den Schaltblöcken der Computer – technische Überwachung, Ausschaltung des Sicherheitsrisikos.

So geschah es. Sie vermuteten nichts, erwarteten nichts, waren sich stillschweigend einig. Aber sie mußten es tun, und wenn es noch so schwierig war, mußten ihre Listen durchgehen, jeden Punkt aufgreifen, jeder Spur nachgehen, auch wenn sie ins Leere führte, nur, um nichts zu übersehen, um mit Sicherheit ausschließen zu können, um Bedenken zu beseitigen.

Für die da draußen war es genauso sinnlos wie für ihn hinter der Mauer, und wahrscheinlich war längst beschlossen, welche Maßnahmen zu ergreifen wären, welche Schritte zu unternehmen, um die Situation ins Lot zu bringen, das Geschehen zu bereinigen, die Unruhe, die er erregt hatte, zu eliminieren.

Eigentlich lag der Gedanke nahe; er wunderte sich selbst darüber, warum er ihn so spät erkannt hatte. Hielten sie ihn unter beruhigenden Drogen? Ließ ihre Wirkung nach? Es schien nicht einmal so schwierig. Seine beiden Betreuer, der Arzt und die Schwester, hatten vor allem auf seine Gesundheit geachtet, und der Soldat draußen sollte ihn wohl eher beschützen als bewachen. Einige der Wachen waren aktiv und unruhig, sie liefen hin und her, umkreisten seinen Käfig, blickten mitunter neugierig herein. (Einer war dabei, der ihm bekannt vorkam – vielleicht hatten sie einen Mann von IKD eingeschleust, um ganz sicher zu gehen.) Andere schienen eher desinteressiert, saßen stundenlang reglos auf ihren Stühlen und starrten vor sich hin. Es dürfte nicht schwer sein, einen von ihnen zu überrumpeln. Seine Ausbildung hatte auch für solche Fälle vorgesorgt. Von nun an würde er auf die Wachordnung achten müssen.

Schwieriger war es, die Kunststoffwand zu durchbrechen. Er holte sich ein Obstmesser und kratzte ein wenig damit herum, aber es hinterließ keine Spur und brach ab. Dan stellte fest, daß die Klinge aus brüchigem Oxidsinter bestand. Das war bestimmt kein Zufall, sie hatten nichts dem Zufall überlassen.

Am einfachsten wäre es freilich gewesen, durch die Tür hinauszukommen, doch dieser Gedanke schied aus. Im Innern gab es keinen Schlüssel, ja nicht einmal ein Schlüsselloch. Konnte ein Trick helfen, eine Verkleidung, eine Köpenickiade? Doch hatte in den 58 Tagen, die er nun hier verbrachte, kein Mensch den Quarantäneraum betreten oder verlassen. Er mußte den Arzt und die Schwester bewundern, die mit ihm eingesperrt ausharrten. Sie brauchten dieselbe Geduld wie er, und manchmal hatte er schon Anzeichen davon bemerkt, daß sie ihres Aufenthalts überdrüssig waren, obwohl er sicher gut belohnt wurde.

Bestand eine Möglichkeit, sich mit ihnen zu verbünden? Der Arzt kam wohl nicht in Frage, dagegen traute er es sich zu, die Schwester für sich zu gewinnen. Allerdings wäre das ein zweifelhafter Gewinn. Wenn sie nur zum Schein auf seine Vorschläge einginge und ihn verriet?

Es war besser, er machte es allein. Also: Ausbruch. Der Kunststoff war hart, aber war er auch chemisch beständig? Die Apotheke, die unter der Obhut der Schwester stand, war nicht abgesperrt, nur die gefährlichen Medikamente befanden sich in einem Tresor. Jene organischen Lösungsmittel, in denen sich Kunststoff auflöst, sind ungefährlich. Es kam darauf an, ob unter den Chemikalien etwas Brauchbares war.

Dan sah auf die Uhr: drei Uhr morgens. Ein Blick durch das Fenster: Der Posten döste vor sich hin. Stille.

Leise stand er auf. Auf bloßen Füßen schlich er in die Apotheke. Er machte kein Licht. Von außen drang genug Helligkeit herein, um die Umrisse der Dinge hervorzuheben. Ein Regal mit Flaschen – Alkohol, Äther, Desinfektionsmittel, Seifenlösung... hier: eine Flasche zum Abwaschen von aufspritzbaren Kunststoffverbänden – eine große, volle Flasche.

Dan holte aus der Küche einen leeren Mineralwasserbehälter, schüttete das farblose Lösungsmittel hinein, ersetzte es durch Wasser. Als er in seine Kammer zurückging, öffnete sich eine Tür – der Arzt blickte heraus.

»Ich hatte Durst«, sagte Daniel leichthin. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt!«

»Nein, nein – ich war zufällig wach...«

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

In seiner Kammer angekommen, wartete Dan eine Viertelstunde. Dann knüllte er ein Papiertaschentuch zusammen, tränkte es mit der Lösung. Er schob den Tisch von der Außenwand, kauerte sich nieder und wischte mit dem feuchten Papierknäuel über die glatte, gelblichweiße Fläche. Dann kratzte er mit den Fingernägeln daran: Zwischen Nagel und Haut fühlte er eine schlüpfrige Masse.

*

Wir wissen nicht, ob dich diese Nachricht erreicht. Wir können auch immer weniger daran glauben, daß du zurückkommst – nur Sonja sagt, sie sei sicher. Unter normalen Umständen müßten wir dich längst für tot halten.

Die Stadt kam uns von Anfang an merkwürdig vor. Wir hatten aber nie geglaubt, daß wir selbst jeden Halt verlieren könnten. Wir begannen schon an unseren Sinnen zu zweifeln. Aber wir sprechen darüber, unterhalten uns sachlich und kühl – es ist Wirklichkeit.

Die Stadt zerfällt. Sie zerfällt von Tag zu Tag mehr, du wirst es sehen. Es können nicht die Granaten gewesen sein, die diese Zerstörung hervorgerufen haben – sie haben nur einige wenige Gebäude beschädigt. Doch der Zerfall setzt sich fort. Es ist, als seien die Schüsse ein Signal gewesen, ein Startzeichen zur allgemeinen Auflösung.