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35

An einem späten Nachmittag, als Jennifer gerade das Büro verlassen wollte, sagte Cynthia: »Ein Mr. Clark Holman ist am Telefon und möchte Sie sprechen.«

Jennifer zögerte, dann sagte sie: »Okay, stell ihn durch.« Clark Holman war ein Anwalt der Legal Aid Society, die sich der Menschen annahm, die juristischen Beistand brauchten, aber aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage waren, ihn sich auch zu beschaffen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß, Jennifer«, sagte er, »aber wir haben hier einen Fall, mit dem sich niemand beschäftigen will, und ich wüßte es wirklich sehr zu schätzen, wenn Sie uns aushelfen könnten. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, aber...«

»Wer ist der Angeklagte?«

»Jack Scanion.«

Als sie den Namen hörte, klingelte es bei Jennifer sofort. Er war seit zwei Tagen auf den Titelseiten aller Zeitungen. Jack Scanion wurde beschuldigt, ein vierjähriges Mädchen entführt und Lösegeld erpreßt zu haben. Er war nach einer Phantomzeichnung identifiziert worden, die die Polizei nach den Angaben von Augenzeugen der Entführung angefertigt hatte. »Warum ich, Clark?«

»Scanion hat um Sie gebeten.«

Jennifer blickte auf die Uhr an der Wand. Sie würde zu spät zu Joshua kommen. »Wo ist er jetzt?«

»Im Metropolitan-Gefängnis.«

Jennifer traf eine schnelle Entscheidung. »Ich gehe zu ihm und spreche mit ihm. Treffen Sie die Vorbereitungen, bitte.«

»Gut. Tausend Dank. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.« Jennifer rief Mrs. Mackey an. »Ich komme heute etwas später.

Geben Sie Joshua sein Essen und sagen Sie ihm, er soll aufbleiben, bis ich da bin.« Zehn Minuten später war Jennifer auf dem Weg.

Kidnapping war für sie das scheußlichste aller Verbrechen, vor allem, wenn ein hilfloses, kleines Kind entführt wurde; aber jeder Beschuldigte hatte ein Recht darauf, daß man ihn anhörte, ganz egal, wie schrecklich sein Verbrechen gewesen war. Das war der Grundstock des Rechts: Gerechtigkeit für die Großen wie für die Kleinen.

Jennifer wies sich an der Pforte aus, und ein Wärter führte sie zum Besuchszimmer für Anwälte. Er sagte: »Ich hole Ihnen Scanion.«

Einige Minuten später wurde ein dünner, gutaussehender Mann von Ende Dreißig mit einem blonden Bart und feinem, blondem Haar in den Raum gebracht. Er sah beinahe aus wie Jesus Christus.

Er sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Miß Parker.« Seine Stimme war weich und sanft. »Danke, daß Sie sich um mich kümmern.«

»Setzen Sie sich.«

Er nahm einen Stuhl gegenüber von Jennifer. »Sie haben darum gebeten, daß ich Sie aufsuche?«

»Ja. Obwohl ich glaube, daß nur Gott mir helfen kann. Ich habe eine Dummheit begangen.«

Sie betrachtete ihn voll Abscheu. »Sie nennen es eine ›Dummheit‹, wenn jemand ein vierjähriges Mädchen kidnappt und für Lö segeld festhält?«

»Ich habe Tammy nicht wegen des Lösegelds entführt.«

»Oh? Warum haben Sie sie dann entführt?« Nach einer langen Pause begann Jack Scanion zu sprechen. »Meine Frau, Evelyn, starb im Kindbett. Ich habe sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Wenn es auf Erden je eine Heilige gegeben hat, dann sie. Evelyn war keine sehr starke Frau. Der Doktor riet ihr, kein Baby zu bekommen, aber sie wollte nicht hören.« Er blickte verlegen zu Boden. »Es - es ist vielleicht schwer zu verstehen für Sie, aber sie sagte, sie wolle es auf jeden Fall, weil es so wäre, als hätte sie dann noch mehr von mir.«

Wie gut Jennifer das verstand.

Jack Scanion hatte aufgehört, zu sprechen, er schien in Gedanken weit fort. »Sie bekam das Baby?«

Jack Scanion nickte. »Sie starben beide.« Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. »Eine Zeitlang, dachte ich - dachte ich, daß ich... Ich wollte ohne sie nicht weiterleben. Ich fragte mich immer wieder, wie unser Kind wohl geworden wäre. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn sie am Leben geblieben wären. Ich versuchte, die Uhr zurückzudrehen bis zu dem Moment, bevor Evelyn...« Er hielt inne, seine Stimme klang tränenerstickt. »Ich fand Rettung bei der Bibel. Denn siehe, ich habe dich vor eine offene Tür gestellt, die niemand schließen kann. Dann, vor ein paar Tagen, sah ich ein kleines Mädchen auf der Straße. Es spielte. Es war, als sei Evelyn wiedergeboren worden. Sie hatte ihre Augen, ihr Haar. Sie blickte zu mir auf und lächelte, und ich - ich weiß, es klingt verrückt, aber ich hatte das Gefühl, als lächelte Evelyn mich an. Ich muß völlig den Verstand verloren haben. Ich dachte: Dies ist die Tochter, die Evelyn bekommen hätte. Dies ist unser Kind.« Jennifer bemerkte, wie sich seine Fingernägel in die Handballen gruben.

»Ich weiß, es war falsch, aber ich habe sie mitgenommen.« Er blickte Jennifer in die Augen. »Ich hätte dem Kind um nichts in der Welt etwas angetan.«

Jennifer beobachtete ihn scharf, achtete auf einen falschen Ton. Es gab keinen. Scanion war ein verzweifelter Mann. »Was ist mit der Lösegeldforderung?«

»Ich habe kein Lösegeld verlangt. Geld war etwas, das ich zuletzt gewollt hätte. Ich wollte nur die kleine Tammy.«

»Irgend jemand hat aber ein Lösegeldforderung geschickt.«

»Die Polizei behauptet, ich war es, aber ich war's nicht.« Jennifer saß ihm gegenüber und versuchte, die losen Enden zusammenzufügen. »Wann erschien die Nachricht über die Entführung in den Zeitungen? Bevor oder nachdem Sie von der Polizei festgenommen wurden?«

»Vorher. Ich weiß noch, daß ich mir wünschte, sie sollten doch aufhören, darüber zu schreiben. Ich wollte mit Tammy weggehen, und ich hatte Angst, jemand könnte uns aufhalten.«

»Also könnte jeder von der Entführung gelesen und ein Lösegeld herauszuschlagen versucht haben?« Jack Scanion rang hilflos die Hände. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich tot sein möchte.«

Sein Schmerz war offensichtlich, daß Jennifer bewegt war. Wenn er die Wahrheit sagte - und die war eindeutig aus seinem Gesicht abzulesen -, dann verdiente er für seine Tat nicht den Tod. Er sollte bestraft werden, ja, aber nicht hingerichtet.

Jennifer traf ihre Entscheidung. »Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.«

Er sagte leise: »Ich danke Ihnen, aber in Wirklichkeit ist es mir gleich, was aus mir wird.«

»Aber mir nicht.«

Jack Scanion sagte: »Ich fürchte, ich - ich habe kein Geld, um Sie zu bezahlen.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein. Bitte, erzählen Sie mir von sich.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Alles, von Anfang an. Wo wurden Sie geboren?«

»In Norddakota, vor fünfunddreißig Jahren. Ich wurde auf einer Farm geboren. Ich glaube, man kann es eine Farm nennen, auch wenn es nur ein armseliges Stück Land war, auf dem nicht viel wuchs. Wir waren arm. Ich ging von zu Hause weg, als ich fünfzehn war. Meine Mutter habe ich geliebt, aber meinen Vater haßte ich. Ich weiß, die Bibel sagt, man soll nicht schlecht von seinen Eltern reden, aber er war ein böser Mensch. Es machte ihm Spaß, mich auszupeitschen.« Jennifer konnte sehen, wie sich sein Körper anspannte, als er fortfuhr.

»Ich meine, es machte ihm wirklich Spaß. Wenn ich den kleinsten Fehler beging, schlug er mich mit einem Ledergürtel mit einer großen Eisenschnalle am Ende. Dann mußte ich niederknien und Gott um Vergebung anflehen. Lange Zeit habe ich Gott genauso gehaßt wie meinen Vater.« Er schwieg, von seinen Erinnerungen überwältigt. »Sie sind von zu Hause weggerannt?«

»Ja. Per Anhalter bin ich nach Chicago getrampt. Ich hatte nicht viel gelernt, aber zu Hause habe ich immer viel gelesen. Wenn mein Vater mich erwischte, war das ein weiterer Grund für eine Auspeitschung. In Chicago bekam ich einen Job in einer Fabrik. Da traf ich Evelyn. Ich geriet mit der Hand zu nah an eine Fräse und verletzte mich. Sie brachten mich zur Poliklinik, und da war sie. Sie war Krankenschwester.« Er läche lte Jennifer an. »Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Es dauerte ungefähr zwei Wochen, bis meine Hand verheilt war, und ich ging jeden Tag zur Behandlung zu Evelyn. Danach gingen wir miteinander. Wir sprachen davon, zu heiraten, aber die Firma verlor einen großen Auftrag, und ich wurde zusammen mit dem Rest meiner Abteilung entlassen. Evelyn machte das nichts aus. Wir heirateten, und sie kümmerte sich um mich. Das war die einzige Sache, über die wir jemals gestritten haben. Ich wurde in dem Glauben erzogen, daß ein Mann seine Frau ernähren muß. Ich kriegte einen Job als Lastwagenfahrer, und die Bezahlung war gut. Das einzige, was ich daran furchtbar fand, war, daß wir oft getrennt waren, manchmal eine ganze Woche lang. Abgesehen davon war ich unheimlich glücklich. Wir waren beide glücklich. Und dann wurde Evelyn schwanger.«