Ein Schauder durchlief ihn. Seine Hände begannen zu zittern. »Evelyn und das Kind starben.« Tränen rannen über seine Wangen. »Ich weiß nicht, warum Gott das getan hat. Er mu ß einen Grund gehabt haben, aber ich weiß nicht, welchen.« Er wiegte sich in seinem Stuhl vor und zurück, ohne es zu merken, die Arme gegen die Brust gepreßt, als wollte er seinen Kummer daran hindern, hervorzubrechen. »Ich will dir den Weg weisen, den du gehen mußt; ich werde an deiner Seite sein.« Jennifer dachte: Den wird der elektrische Stuhl nicht kriegen. »Ich komme morgen wieder«, versprach sie ihm.
Die Kaution war auf zweihunderttausend Dollar festgesetzt worden. Jack Scanion hatte kein Geld, so daß Jennifer es für ihn auftrieb. Scanion wurde aus dem Gefängnis entlassen, und Jennifer suchte ihm ein kleines Hotel an der West Side.
Sie gab ihm hundert Dollar, damit er sich über Wasser halten konnte.
»Ich weiß nicht, wie, aber ich zahle Ihnen jeden Cent zurück«, sagte Jack Scanion. »Ich werde mir einen Job suchen, ganz egal, was für einen. Ich werde alles annehmen.«
Als Jennifer ihn verließ, las er gerade die Stellenangebote.
Der Staatsanwalt Earl Osborne war ein großer, stämmiger Mann mit einem weichen, runden Gesicht und täuschend sanften Manieren. Zu Jennifers Überraschung hielt sich auch Robert Di Silva in Osbornes Büro auf. »Ich habe gehört, daß Sie den Fall übernommen haben«, sagte Di Silva. »Ihnen ist nichts zu dreckig, was?« Jennifer wandte sich an Earl Osborne. »Was hat der hier zu suchen? Dies ist Bundessache.«
Osborne erwiderte: »Scanion hat das Mädchen im Wagen ihrer Eltern entführt.« »Autodiebstahl«, sagte Di Silva.
Jennifer fragte sich, ob er auch dann hier gewesen wäre, wenn sie nichts mit dem Fall zu tun hätte. Sie wandte sich wieder an Earl Osborne.
»Ich schlage Ihnen einen Handel vor«, sagte Jennifer. »Mein Mandant...«
Earl Osborne hob die Hand. »Vergessen Sie's. Diese Sache ziehen wir bis zum Ende durch.« »Es gibt Umstände...«
»Darüber können Sie uns alles bei der Voruntersuchung erzählen.«
Di Silva grinste sie an.
»Gut«, sagte Jennifer. »Ich sehe Sie vor Gericht.«
Jack Scanion fand einen Job in einer Werkstatt an der West
Side in der Nähe seines Motels, und Jennifer schaute auf einen
Sprung herein.
»Die Voruntersuchung ist übermorgen«, informierte sie ihn. »Ich werde versuchen, die Anklage dazu zu bringen, daß sie einem Schuldbekenntnis in einem geringeren Vergehen zustimmt. Sie werden einige Jahre sitzen müssen, Jack, aber ich werde dafü r sorgen, daß es so kurz wie möglich ausfällt.« Die Dankbarkeit in seinem Gesicht war Belohnung genug. Auf Jennifers Vorschlag hatte Scanion einen Anzug gekauft, damit er bei der Voruntersuchung einen respektablen Eindruck machte. Er hatte sich das Haar schneiden lassen und den Bart gestutzt, Jennifer war mit seiner Erscheinung zufrieden.
Earl Osborne hatte sein Beweismaterial vorgelegt und um eine formelle Anklageverfügung gebeten. Richter Barnard wandte sich an Jennifer.
»Möchten Sie irgend etwas dazu sagen, Miß Parker?«
»Ja, Euer Ehren. Ich möchte der Regierung die Kosten für einen Prozeß sparen. Es gibt mildernde Umstände, über die noch nicht gesprochen wurde. Ich möchte die Anklage in eine weniger schwere Beschuldigung abgemildert sehen, derer mein Mandant sich schuldig bekennen würde.«
»Auf keinen Fall«, sagte Earl Osborne. »Die Regierung verweigert ihre Zustimmung.«
Jennifer wandte sich an Richter Barnard. »Könnten wir das in Ihren Räumen besprechen, Euer Ehren?«
»Einverstanden. Ich setze den Termin für die Verhandlung fest, nachdem ich gehört habe, was die Verteidigung zu sagen hat.«
Jennifer wandte sich an Jack Scanion, der verwirrt auf seinem Platz stand.
»Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen«, erklärte Jennifer ihm. »Ich komme vorbei und lasse Sie wissen, wie es ausgegangen ist?«
Er nickte und sagte leise: »Danke, Miß Parker.« Jennifer sah ihn den Gerichtssaal verlassen.
Jennifer, Earl Osborne, Robert Di Silva und Richter Barnard saßen im Büro des Richters.
Osborne sagte zu Jennifer: »Ich verstehe nicht, wie Sie mich auch nur fragen konnten, ob ich mit einem solchen Handel einverstanden wäre. Kidnapping für Lösegeld ist ein Kapitalverbrechen. Ihr Mandant ist schuldig, und er wird für seine Tat bezahlen.«
»Glauben Sie doch nicht alles, was Sie in den Zeitungen lesen, Earl. Jack Scanion hat nichts mit der Lösegeldforderung zu tun.«
»Wen wollen Sie denn jetzt auf den Arm nehmen? Wenn es nicht wegen des Lösegeldes war, weswegen dann?«
»Das werde ich Ihnen sagen«, meinte Jennifer. Und sie erzählte ihnen von der Farm und den Prügeln und der Liebe zwischen Jack und Evelyn und ihrer Heirat und dem Tod seiner Frau und des Babys bei der Geburt. Sie hörten schweigend zu, und als Jennifer fertig war, fragte Di Silva:
»Also hat Jack Scanion das Mädchen entführt, weil es ihn an das Kind erinnerte, das er bekommen hätte? Und Jack Scanions Frau starb im Kindbett?«
»Das ist richtig.« Jennifer wandte sich an Richter Barnard. »Euer Ehren, ich kann mir nicht vorstellen, daß das ein Mann ist, den Sie hinrichten würden.« Di Silva sagte unerwartet: »Ich stimme Ihnen zu.« Jennifer blickte ihn überrascht an.
Di Silva holte einige Papiere aus einer Aktentasche. »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er. »Wie würden Sie es finden, wenn man diesen Mann hinrichtete?« Er las aus einem Dossier vor. »Frank Jackson, Alter 38. Geboren in Nob Hill, San Francisco. Vater Arzt, Mutter eine Dame der Gesellschaft. Mit vierzehn geriet Jackson in eine Drogengeschichte, rannte von zu Hause fort, wurde in Haight-Ashbury aufgegriffen und nach Hause zurückgebracht. Drei Monate später brach Jackson in die Klinik seines Vaters ein, stahl alle Drogen, die er kriegen konnte, und rannte weg. In Seattle aufgegriffen wegen Besitzes und Handels mit Drogen, in eine Besserungsanstalt gesteckt, mit achtzehn entlassen und einen Monat später wegen eines bewaffneten Raubüberfalls mit Tötungsabsicht erneut aufgegriffen...«
Jennifer fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Was hat das mit Jack Scanion zu tun?«
Earl Osborne bedachte sie mit einem frostigen Lächeln. »Jack Scanion ist Frank Jackson.«
»Das glaube ich nicht.«
Di Silva sagte: »Dieses Dossier kam vor einer Stunde vom FBI herein. Jackson ist ein Hochstapler und psychopathischer Lügner. Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist er von Zuhälterei über Brandstiftung bis zu bewaffnetem Raubüberfall wegen fast allem verhaftet worden. Er hat eine Zuchthausstrafe in Joliet abgesessen. Vor fünf Jahren wurde er vom FBI unter dem Verdacht einer Entführung festgenommen. Er hat ein dreijähriges Mädchen gekidnappt und Lösegeld gefordert. Der Körper des kleinen Mädchens wurde zwei Monate später in einem Waldstreifen gefunden. Dem Bericht des Leichenbeschauers zufolge war der Körper bereits zum Teil verwest, aber es ließ sich dennoch feststellen, daß er über und über mit kleinen Messerwunden bedeckt war. Das Mädchen war vergewaltigt worden - von einem Sadisten.« Jennifer fühlte sich plötzlich krank.