»Jackson wurde aufgrund der Tricks eines ausgekochten Verteidigers freigesprochen.« Di Silvas Stimme war voller Verachtung, als er sagte: »Und diesen Mann wollen Sie frei herumlaufen lassen.«
»Kann ich bitte das Dossier sehen?«
Schweigend reichte Di Silva es ihr, und Jennifer begann zu lesen. Es war Jack Scanion, daran konnte kein Zweifel bestehen. Ein Erkennungsfoto der Polizei war an das Dossier geheftet. Er war damals jünger gewesen und hatte keinen Bart gehabt, aber es konnte kein Mißverständnis geben. Jack Scanion - Frank Jackson - hatte sie von A bis Z belogen. Er hatte seine ganze Lebensgeschichte erfunden, und Jennifer hatte jedes Wort geglaubt. Er war so überzeugend gewesen, daß sie nicht einmal Ken Bailey damit beauftragt hatte, seine Geschichte zu überprüfen.
Richter Barnard fragte: »Kann ich das einmal sehen?« Jennifer gab ihm das Dossier. Der Richter überflog es und sah Jennifer an. »Nun?«
»Ich lege die Verteidigung nieder.« Di Silva hob in gespielter Überraschung die Augenbrauen.
»Sie schockieren mich, Miß Parker. Sie haben immer gesagt, daß jeder das Recht auf einen Anwalt hat.«
»Das hat auch jeder«, antwortete Jennifer gleichmütig, »aber ich habe ein einfaches Prinzip: Ich verteidige niemanden, der mich belügt. Mr. Jackson wird sich einen anderen Anwalt suchen müssen.«
Richter Barnard nickte. »Das Gericht wird dafür sorgen.« Osborne sagte: »Ich möchte, daß die Freilassung auf Kaution sofort widerrufen wird, Euer Ehren. Ich halte es für zu gefährlich, ihn frei herumlaufen zu lassen.«
Richter Barnard wandte sich an Jennifer: »Im Augenblick sind Sie noch sein Anwalt, Miß Parker. Haben Sie irgendwelche Einwände?«
»Nein«, sagte Jennifer fest. »Keine.«
Richter Barnard sagte: »Ich werde die Freilassung auf Kaution aufheben.«
Richter Lawrence Waldman hatte Jennifer für diesen Abend zu einem Wohltätigkeitsessen eingeladen. Sie fühlte sich nach den Ereignissen des Nachmittags so ausgelaugt, daß sie lieber nach Hause gegangen wäre und einen ruhigen Abend mit Joshua verbracht hätte, aber sie wollte den Richter nicht enttäuschen. Sie wechselte die Garderobe im Büro und traf Richter Waldman im Waldorf Astoria, wo das Essen stattfand. Es war ein Galaereignis mit einem halben Dutzend Hollywoodstars auf der Bühne, aber Jennifer konnte es nicht genießen. Ihre Gedanken waren woanders. Richter Waldman hatte sie beobachtet und fragte: »Stimmt irgend etwas nicht, Jennifer?«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Nein, nur ein geschäftliches Problem, Lawrence.«
Und wirklich, was ist das für ein dreckiges Geschäft? dachte Jennifer, wo man mit dem Abschaum der Menschheit zu tun hat, mit Killern, Kidnappern und Sadisten! Sie beschloß, daß es genau der richtige Abend war, um sich zu betrinken. Der Oberkellner näherte sich der Tafel und flüsterte in Jennifers Ohr: »Entschuldigen Sie, Miß Parker, ein Anruf für Sie.« Jennifer hörte eine innere Alarmglocke. Außer Mrs. Mackey wußte niemand, wo sie sich aufhielt. Sie konnte nur anrufen, weil mit Joshua etwas nicht stimmte.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Jennifer. Sie folgte dem Oberkellner in ein kleines Büro neben dem Foyer. Sie hob den Hörer auf, und die Stimme eines Mannes flüsterte: »Du Hure! Du hast mich reingelegt!« Jennifer fühlte, wie sie zu zittern begann. »Wer ist da?« fragte sie.
Aber sie wußte es.
»Du hast die Bullen auf mich gehetzt, damit sie mich schnappen.«
»Das stimmt nicht. Ich...«
»Du hast versprochen, mir zu helfen.«
»Ich werde Ihnen helfen. Wo sind...«
»Du verlogene Fotze.« Seine Stimme wurde so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Dafür wirst du bezahlen. O ja, du wirst bezahlen!«
»Warten Sie einen Augen...«
Das Telefon war stumm. Ein eisiger Schauer durchlief Jennifer. Sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Irgend etwas war grauenhaft schiefgelaufen. Frank Jackson alias Jack Scanion war entwischt, und er gab Jennifer die Schuld an dem, was vorgefallen war. Woher hatte er wissen können, wo sie sich befand? Er mußte ihr gefolgt sein. Vielleicht wartete er in diesem Augenblick draußen auf sie...
Jennifer versuchte, ihr Zittern zu kontrollieren, nachzudenken, herauszufinden, was passiert sein konnte. Jackson hatte die Polizei anrücken sehen und war weggerannt. Oder vielleicht hatten sie ihn verhaftet, und er war danach erst entwischt. Aber das Wie war nicht wichtig. Wichtig war, daß er ihr an allem die Schuld gab.
Frank Jackson hatte schon einmal getötet, und er konnte wieder töten. Jennifer ging auf die Damentoilette und blieb dort, bis sie wieder ruhig war. Als sie sich unter Kontrolle hatte, kehrte sie an den Tisch zurück.
Richter Waldman warf nur einen Blick auf ihr Gesicht. »Was, um Himmels willen, ist passiert?« Jennifer gab ihm einen kurzen Bericht. Er war bestürzt. »Allmächtiger! Wollen Sie, daß ich Sie nach Hause begleite?«
»Ich schaffe es schon, Lawrence. Wenn Sie nur dafür sorgen, daß ich sicher zu meinem Wagen gelange, dann schaffe ich es schon.«
Sie schlüpften unbemerkt aus dem großen Ballsaal, und Richter Waldman blieb bei Jennifer, bis der Portier ihren Wagen gebracht hatte.
»Sind Sie sicher, daß ich Sie nicht begleiten soll?«
»Danke, ich bin überzeugt, daß die Polizei ihn noch vor dem
Morgengrauen festnimmt. Es gibt nicht viele Leute, die ihm ähnlich sehen. Gute Nacht.«
Jennifer fuhr los und achtete darauf, daß ihr niemand folgte. Als sie dessen sicher war, bog sie auf den Long Island Expressway und fuhr nach Hause.
Immer wieder blickte sie in den Rückspiegel, behielt die Wagen hinter ihr im Auge. Einmal fuhr sie an den Straßenrand, ließ den gesamten Verkehr vorbei und fuhr erst weiter, als die Straße hinter ihr leer war. Jetzt fühlte sie sich wohler. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis die Polizei Frank Jackson aufgriff. Inzwischen hatten sie wahrscheinlich schon eine Großfahndung nach ihm eingeleitet.
Jennifer bog in ihre Auffahrt. Grundstück und Haus, die hellerleuchtet hätten sein müssen, lagen in völliger Dunkelheit. Jennifer saß im Wagen, starrte ungläubig das Haus an, und in ihrem Kopf begann eine Alarmglocke zu schrillen. Sie stieß die Autotür auf und rannte zur Eingangstür. Sie war nur angelehnt. Einen Augenblick erstarrte Jennifer zur Salzsäule, von Entsetzen gelähmt, dann stolperte sie in die Halle. Ihr Fuß stieß gegen etwas Warmes und Weiches, und sie keuchte erschrocken. Sie schaltete das Licht ein. Max lag auf dem blutgetränkten Teppich. Die Kehle des Schäferhundes war von einem Ohr zum anderen durchtrennt. »Joshua!« Der Schrei verhallte. »Mrs. Mackey!« Jennifer lief von Raum zu Raum, drehte alle Lichter an und rief die Namen ihres Sohnes und der Haushälterin. Ihr Herz schlug so rasend, daß es ihr schwerfiel, zu atmen. Sie stürzte die Treppe zu Joshuas Schlafzimmer hinauf. In seinem Bett hatte jemand geschlafen, aber es war leer. Jennifer durchsuchte jedes Zimmer. Dann lief sie wieder hinunter. Sie war wie betäubt. Frank Jackson mußte genau gewußt haben, wo sie wohnte. Er mußte ihr eines Abends gefolgt sein, entweder von ihrem Büro oder von der Werkstatt. Er hatte Joshua entführt, und er würde ihn töten, um sie zu bestrafen.
Sie ging gerade an der Wäschekammer vorbei, als sie ein schwaches Kratzen hörte. Jennifer näherte sich langsam der Tür und öffnete sie. Es war dunkel dahinter. Jennifer schaltete das Licht an. Mrs. Mackey lag auf dem Boden. Ihre Hände und Füße waren mit Kupferdraht gefesselt. Sie war halb bewußtlos.
Jennifer kniete rasch bei ihr nieder. »Mrs. Mackey!« Die Haushälterin blickte zu Jennifer auf, ihre Augen verloren langsam den verwirrten Blick. »Er hat Joshua mitgenommen«, schluchzte sie. So vorsichtig, wie sie konnte, löste Jennifer den Draht, der in Mrs. Mackeys Arme und Beine schnitt. Das Fleisch war aufgeschnurrt und blutete. Jennifer half der Haushälterin auf die Beine.