Mrs. Mackey weinte hysterisch. »Ich - ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich - ich habe es versucht. Ich...« Das Klingeln des Telefons drang in den Raum. Die beiden Frauen waren sofort still. Das Telefon schrillte und schrillte, und irgendwie hatte es einen bösen Klang. Jennifer ging zum Apparat und hob ab.
Die Stimme sagte: »Ich wollte nur sicher sein, daß Sie gut nach Hause gekommen sind.« »Wo ist mein Sohn?«
»Er ist ein wunderschöner Junge, nicht wahr?« fragte die Stimme.
»Bitte! Ich tue alles - was immer Sie wollen!«
»Sie haben schon alles getan, Mrs. Parker.«
»Nein, bitte!« Sie schluchzte hilflos.
»Es gefällt mir, Sie weinen zu hören«, flüsterte die Stimme. »Sie erhalten Ihren Sohn zurück, Mrs. Parker. Lesen Sie morgen die Zeitungen!« Und die Leitung war stumm.
Jennifer kämpfte mit der Bewußtlosigkeit. Sie versuchte, nachzudenken. Frank Jackson hatte gesagt: »Er ist ein wunderschöner Junge, nicht wahr?« Das konnte bedeuten, daß Joshua noch am Leben war. Hätte er sonst nicht gesagt, war wunderschön? Sie wußte, daß sie nur Wortklauberei betrieb, um nicht den Verstand zu verlieren. Sie mußte etwas unternehmen, ganz schnell. Ihr erster Impuls war, Adam anzurufen, ihn um Hilfe zu bitten. Es war sein Sohn, der entführt worden war, der getötet werden würde. Aber sie wußte, daß Adam nichts tun konnte. Er lebte zweihundertfünfunddreißig Meilen entfernt. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Die eine bestand darin, Robert Di Silva anzurufen, ihm zu erzählen, was passiert war, und ihn zu bitten, sein Schleppnetz auszuwerfen und Frank Jackson zu schnappen. Oh, mein Gott, das dauert zu lange! Die zweite Möglichkeit war das FBI. Das FBI hatte Erfahrung mit Kidnapping. Das Problem bestand nur darin, daß es sich diesmal nicht um eine normale Entführung handelte. Es würde keine Lösegeldforderung geben, der sie nachgehen konnten, keine Gelegenheit, Frank Jackson eine Falle zu stellen und Joshuas Leben zu retten. Das FBI hielt sich starr an seine gewohnte Routine. In diesem Fall konnte es mehr schaden als nützen. Sie mußte schnell eine Entscheidung treffen... solange Joshua noch lebte. Robert Di Silva oder das FBI. Es fiel ihr schwer, nachzudenken. Sie holte tief Luft. Die Entscheidung war gefallen. Sie suchte eine Telefonnummer heraus. Ihre Finger zitterten, und sie mußte dreimal Anlauf nehmen, bis sie die Nummer richtig getippt hatte.
Als sich ein Mann am anderen Ende meldete, sagte Jennifer: »Ich möchte Michael Moretti sprechen.«
36
»Tut mir leid, Lady. Sie haben Tony's Place gewählt. Ich kenne keinen Michael Moretti.«
»Warten Sie!« schrie Jennifer. »Legen Sie nicht auf!« Sie zwang sich, ruhig zu klingen. »Es ist dringend. Ich bin - ich bin eine Freundin von ihm. Mein Name ist Jennifer Parker. Ich muß sofort mit ihm sprechen.«
»Hören Sie, Lady, ich sagte doch...«
»Geben Sie ihm meinen Namen und diese Telefonnummer.« Sie nannte die Nummer des Anschlusses. Sie stotterte so heftig, daß sie sich kaum verständlich machen konnte. »Sasasagen Sie ihm -« Am anderen Ende wurde die Verbindung unterbrochen.
Wie betäubt legte Jennifer den Hörer auf. Sie war wieder auf ihre ersten beiden Möglichkeiten angewiesen. Es gab keinen Grund, warum Robert Di Silva und das FBI nicht gemeinsam versuchen sollten, Joshua zu finden. Das einzige, was sie daran wahnsinnig machte, war, daß sie wußte, wie gering die Chancen waren, daß sie Frank Jackson aufspürten. Sie hatten zu wenig Zeit. Lesen Sie morgen die Zeitungen! Die Endgültigkeit dieser Worte ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht noch einmal anrufen würde, um niemandem die Gelegenheit zu geben, ihn aufzuspüren. Sie mußte irgend etwas tun. Sie würde Di Silva anrufen. Sie griff erneut nach dem Telefon. Als sie es berührte, begann es zu klingeln. Sie schrak zusammen. »Hier spricht Michael Moretti.«
»Michael! O Michael, helfen Sie mir, bitte! Ich...« Sie begann unkontrolliert zu schluchzen. Sie ließ den Hörer fallen und hob ihn schnell wieder auf. Sie hatte Angst, er könnte aufgehängt haben. »Michael?«
»Ich bin noch dran.« Seine Stimme war ruhig. »Fassen Sie sich, und erzählen Sie mir, was los ist.«
»Ich - ich...« Sie holte tief Luft, um das Zittern in ihrer Stimme zu beruhigen. »Es handelt sich um meinen Sohn, Joshua. Er - er ist entführt worden. Sie - sie wollen ihn umbringen.«
»Wissen Sie, wer dahintersteckt?«
»Ja, ja. Sein Name ist Frank Jackson.« Ihr Herz schlug wie wild.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.« Seine Stimme war ruhig und vertrauenerweckend.
Jennifer zwang sich, langsam zu sprechen und die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge zu erzählen. »Können Sie Jackson beschreiben?«
Jennifer rief sich Jacksons Aussehen in Erinnerung, dann kleidete sie es in Worte, und Michael sagte: »Sie machen das sehr gut. Wissen Sie, wo er gesessen hat?«
»In Joliet. Er hat gesagt, er wird Joshua...«
»Wo ist die Werkstatt, in der er gearbeitet hat?« Sie gab Michael die Adresse.
»Wissen Sie den Namen des Hotels, in dem er gewohnt hat?« »Ja. Nein.« Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie bohrte die Fingernägel in ihre Stirn, bis sie zu bluten begann, als wollte sie die Erinnerung hervorkratzen. Er wartete geduldig. Plötzlich fiel es ihr ein. »Es war das Travel Well Hotel. Es liegt an der 10. Straße. Aber ich bin sicher, da ist er nicht mehr.« »Wir werden sehen.«
»Ich will meinen Jungen lebendig wiederhaben.« Michael Moretti antwortete nicht, und Jennifer verstand, warum.
»Wenn wir Jackson finden...« Jennifer holte tief Luft und erschauerte. »Tötet ihn!«
»Bleiben Sie in der Nähe des Telefons.« Die Verbindung war unterbrochen. Jennifer legte den Hörer auf. Seltsamerweise fühlte sie sich ruhiger, als wenn schon etwas erreicht wäre. Es gab keinen Grund für das Vertrauen, das sie zu Michael Moretti hatte. Vernünftig betrachtet, hatte sie in ihrer Verzweiflung eine Wahnsinnstat begangen; aber Vernunft spielte im Augenblick keine Rolle. Es ging um das Leben ihres Sohnes. Vorsätzlich hatte sie einen Killer auf einen Killer gehetzt. Wenn es nicht funktionierte... Sie dachte an das kleine Mädchen, dessen von einem Sadisten vergewaltigten Körper man im Wald gefunden hatte.
Jennifer kümmerte sich um Mrs. Mackey. Sie verarztete ihre Schnittwunden und Prellungen und brachte sie ins Bett. Sie bot ihr ein Beruhigungsmittel an, aber Mrs. Mackey stieß es weg.
»Wie könnte ich jetzt schlafen«, rief sie. »O Mrs. Parker! Er hat dem Kind Schlaftabletten gegeben.«
Jennifer starrte sie entsetzt an.
Michael Moretti saß an seinem Schreibtisch und musterte die sieben Männer, die er zusammengerufen hatte. Die ersten drei hatten ihre Instruktionen bereits erhalten. Jetzt wandte er sich an Thomas Colfax. »Tom, du benutzt deine Beziehungen. Geh zu Captain Notaras, er soll sich Jacksons Akte besorgen. Ich will alles wissen, was sie über ihn haben.«
»Wir sollten eine so gute Verbindung nicht wegen einer solchen Sache bemühen, Mike. Ich glaube nicht...«
»Keine Widerrede! Tu, was ich sage!« Colfax sagte steif: »Wie du willst.«
Michael wandte sich an Nick Vito. »Kümmere dich um die Werkstatt, wo Jackson gearbeitet hat. Finde heraus, ob er sich in einer der Bars dort herumgetrieben hat. Ob er irgendwelche Freunde hatte. Ich will ihre Namen haben.« Er blickte auf seine Uhr. »Jetzt ist es Mitternacht. Ich gebe euch acht Stunden Zeit, Jackson zu finden.«
Die Männer strebten der Tür zu. Michael rief ihnen nach. »Ich möchte nicht, daß dem Kind irgendwas geschieht. Haltet telefonisch Verbindung mit mir. Ich warte.« Michael Moretti wartete, bis sie gegangen waren, dann griff er nach einem der Telefone auf seinem Schreibtisch und begann zu wählen.
Ein Uhr morgens
Das Motelzimmer war nicht groß, aber es war ordentlich und sauber. Frank Jackson mochte es, wenn alles reinlich war. Es gehörte zu einer guten Erziehung, sauber zu sein. Die Jalousien waren heruntergelassen und gekippt, so daß niemand hereinsehen konnte. Die Tür war abgeschlossen, mit einer Kette gesichert, und außerdem hatte er einen Stuhl dagegengestellt. Er ging zum Bett, auf dem Joshua lag. Frank Jackson hatte den Jungen gezwungen, drei Schlaftabletten herunterzuwürgen, und sie wirkten immer noch. Da Jackson stolz darauf war, daß er kein Risiko einging, hatte er die Hände und Füße des Jungen mit demselben Draht zusammengebunden, den er auch bei der alten Frau im Haus verwandt hatte. Jackson betrachtete den schlafenden Jungen und fühlte eine Art Trauer.