»Eine Coca-Cola-Flasche?«
»Richtig. Es gibt Milliarden davon auf der Welt, und man kann eine nicht von der anderen unterscheiden. Er war Schuhmacher. Er arbeitete sich die Finger wund, damit etwas zu essen auf dem Tisch stand. Wir hatten nichts. Armut ist nur in Büchern romantisch. In Wirklichkeit bedeutet sie stinkende Räume mit Ratten oder Küchenschaben und schlechtes Essen, von dem nie genug da ist. Als ich ein junges Bürschchen war, habe ich alles, aber auch alles getan, um einen Dollar zu verdienen. Ich erledigte Botengänge für die großen Bonzen, brachte ihnen Kaffee und Zigarren, besorgte ihnen Mädchen -alles, nur um zu überleben. Nun, einmal bin ich nach Mexico City getrampt, im Sommer. Ich hatte kein Geld, nichts. Der Arsch ging mir auf Grundeis. Eines Abends lud mich ein Mädchen, das ich getroffen hatte, in ein teures Restaurant zu einer Party ein. Wir saßen alle beim Essen, und dann wurde der Nachtisch gebracht. Es war ein spezieller mexikanischer Kuchen, in den eine Tonpuppe eingebacken war. Einer der anderen am Tisch erklärte, daß dem Brauch nach derjenige das Essen zu bezahlen hätte, in dessen Stück sich die Tonpuppe befand. Die Puppe war in meinem Stück.« Er machte eine Pause. »Ich habe sie heruntergeschluckt.« Jennifer schob ihre Hand über seine. »Michael, andere Leute sind auch arm gewesen, und...«
»Laß mich mit anderen Leuten in Ruhe.« Seine Stimme klang hart und kompromißlos. »Ich bin ich. Ich weiß, wer ich bin. Ich frage mich, ob du weißt, wer du bist.«
»Ich glaube, schon.«
»Warum bist du mit mir ins Bett gegangen?« Jennifer zögerte. »Nun, ich - ich war dankbar und...« »Blödsinn! Du wolltest mich haben.« »Michael, ich...«
»Ich brauche mir Frauen nic ht zu kaufen. Weder mit Geld noch mit Dankbarkeit.«
Jennifer gestand sich ein, daß er recht hatte. Sie hatte ihn gewollt, genau wie er sie gewollt hatte. Und doch, dachte sie, hat dieser Mann einmal versucht, mich zu vernichten. Wie kann ich das vergessen?
Michael beugte sich vor und ergriff Jennifers Hand, die Innenfläche nach oben. Langsam liebkoste er jeden Finger, jede Kuppe, ohne die Augen von ihr zu nehmen. »Versuch nicht, mit mir zu spielen. Niemals, Jennifer.« Sie fühlte sich hilflos. Was immer im Augenblick zwischen ihnen passierte, es verdrängte die Vergangenheit.
Beim Dessert sagte Michael es dann. »Ach, übrigens, ich habe einen Fall für dich.«
Es war, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpaßt. Jennifer starrte ihn an. »Was für einen Fall?«
»Einer me iner Jungen, Vasco Gambutti, ist verhaftet worden, weil er einen Bullen umgelegt hat. Ich möchte, daß du ihn verteidigst.«
Jennifer spürte Schmerz und Wut darüber, daß er sie immer noch zu benutzen versuchte, in sich aufsteigen. Gleichmütig sagte sie: »Es tut mir leid, Michael. Ich habe dir schon einmal gesagt, ich kann mich nicht mit - mit deinen... Freunden einlassen.«
Michael lächelte kalt. »Kennst du die Geschichte von dem kleinen Löwenjungen in Afrika? Es läßt seine Mutter zum erstenmal allein, um zum Fluß hinunterzulaufen und zu trinken, und noch ehe es angekommen ist, wird es von einem Gorilla niedergeschlagen. Während es noch versucht, wieder auf die Beine zu kommen, wird es von einem Leoparden beiseitegestoßen. Eine Elefantenherde trampelte es halb zu Tode. Das Junge taumelt schließlich völlig erschüttert nach Hause und sagt: ›Weißt du was, Mama - das da draußen ist ein Dschungel!‹«
Er schwieg. Auch Jennifer schwieg. Das war tatsächlich ein Dschungel da draußen, dachte Jennifer, aber sie hatte sich immer herausgehalten oder nur bis zum Rand vorgewagt, und sie hatte die Möglichkeit zur Flucht besessen, wann immer sie wollte. Sie hatte die Regeln aufgestellt, und ihre Klienten mußten sie befolgen. Aber jetzt hatte Michael Moretti das alles über den Haufen geworfen. Es war sein Dschungel. Jennifer hatte Angst davor, nicht mehr herauszufinden. Und doch, wenn sie daran dachte, was er für sie getan hatte, verlangte er nicht allzu viel. Sie würde ihm diesen einen Gefallen erweisen.
38
»Wir übernehmen den Fall Vasco Gambutti«, informierte Jennifer Ken Bailey.
Ken blickte Jennifer ungläubig an. »Gambutti gehört zur Mafia! Er ist einer von Michael Morettis Killern. Solche Mandanten nehmen wir gewöhnlich nicht.«
»Diesen nehmen wir.«
»Jennifer, wir können es uns nicht leisten, uns mit der Organisation einzulassen.«
»Gambutti hat wie jeder andere das Recht auf einen fairen Prozeß.« Die Worte klangen sogar in ihren eigenen Ohren hohl. »Ich lasse nicht zu, daß du...«
»So lange dies meine Firma ist, treffe ich die Entscheidungen.« Sie sah, wie ein überraschter und verletzter Ausdruck in seine Augen trat.
Ken nickte, drehte sich um und verließ das Büro. Jennifer hätte ihn am liebsten zurückgerufen, um ihm alles zu erklären. Aber wie? Sie war nicht einmal sicher, daß sie es sich selbst erklären konnte.
Als Jennifer sich das erste Mal mit Vasco Gambutti traf, versuchte sie, in ihm nur einen weiteren Mandanten zu sehen. Sie hatte schon vorher Klienten vertreten, die des Mordes beschuldigt waren, aber irgendwie war es diesmal etwas anderes. Dieser Mann war ein Mitglied des organisierten Verbrechens, eines Syndikats, das das Land um Milliarden Dollar zur Ader ließ, eines Geheimbundes, der, um sich zu schützen, auch vor Mord nicht zurückschreckte. Die Beweislast gegen Gambutti war überwältigend. Er war bei einem Überfall auf ein Pelzgeschäft überrascht worden und hatte einen Polizeibeamten getötet, der ihn festzunehmen versuchte. Die Morgenzeitungen verkündeten, daß Jennifer Parker die
Verteidigung übernehmen würde. Richter Lawrence Waldman rief sie an und fragte: »Stimmt das, Jennifer?«
Jennifer wußte sofort, worauf er sich bezog. »Ja, Lawrence.« Eine Pause. »Ich bin überrascht. Sie wissen natürlich, wer er ist.«
»Ja, ich weiß Bescheid.«
»Sie begeben sich auf gefährlichen Boden.«
»Nicht wirklich. Ich tue nur einem Freund einen Gefallen.«
»Ich verstehe. Seien Sie vorsichtig.«
»Das werde ich«, versprach Jennifer.
Erst hinterher fiel ihr auf, daß er kein Wort über ihr gemeinsames Abendessen verloren hatte.
Nachdem sie das Material, das ihr Stab zusammengetragen hatte, durchgegangen war, stellte Jennifer fest, daß sie überhaupt nichts in der Hand hatte.
Vasco Gambutti war auf frischer Tat bei einem Raubüberfall in Tateinheit mit Mord ertappt worden, und es gab keine mildernden Umstände. Darüber hinaus hatten Geschworene immer eine starke Aversion gegen Polizistenmörder. Sie rief Ken Bailey zu sich und gab ihm Instruktionen. Er sagte nichts, aber Jennifer spürte seine Mißbilligung und war betrübt. Sie schwor sich, daß sie nie wieder für Michael arbeiten würde.
Ihr Privatapparat klingelte, und sie hob ab. Michael sagte: »Hallo, Baby. Ich habe Lust auf dich. Sei in einer halben Stunde bei mir.«
Sie saß da, lauschte und fühlte bereits seine Umarmung, den Druck seines Körpers gegen den ihren. »Ich komme«, sagte sie. Der Schwur war vergessen.
Der Gambutti-Prozeß dauerte zehn Tage. Die Presse war in voller Stärke aufmarschiert, um Staatsanwalt Di Silva und Jennifer Parker wieder einmal in offener Schlacht zu sehen. Di Silva hatte seine Hausaufgaben sorgfältig erledigt. Er vertrat seine Position bewußt unterkühlt und überließ es den Geschworenen, aus den Andeutungen, die er fallenließ, sich in ihrer Phantasie noch größere Schreckensszenen auszumalen als die von ihm beschriebenen.
Jennifer hörte den Zeugenaussagen schweigend zu und gab sich nur selten die Mühe, Einspruch zu erheben. Sie wartete mit ihrem Zug bis zum letzten Verhandlungstag. Es gab eine Faustregel im Strafrecht, nach der man den Spieß umdrehen und dem Kläger den Prozeß machen mußte, wenn man eine schwache Verteidigungsposition hatte. Da Jennifer keine Möglichkeit sah, Vasco Gambutti wirklich zu verteidigen, schlug sie Scott Norman, den getöteten Polizeibeamten, ans Kreuz. Ken Bailey hatte alles nur Wissenswerte über Scott Norman ausgegraben. Sein Führungszeugnis war nicht gerade gut, aber Jennifer ließ es noch zehnmal schlechter aussehen. Norman war zwanzig Jahre bei der Polizei gewesen, und während dieser zwanzig Jahre war er dreimal wegen unnötiger Gewaltanwendung vom Dienst suspendiert worden. Er hatte einen unbewaffneten Verdächtigen angeschossen und beinahe getötet, er hatte einen Betrunkenen in einer Bar zusammengeschlagen, und ein dritter Mann mußte im Krankenhaus zusammengeflickt werden, nachdem Norman eine häusliche Streitigkeit geschlichtet hatte. Obwohl diese Zwischenfälle sich über ein Periode von zwanzig Jahren verteilten, ließ Jennifer es aussehen, als hätte der Verstorbene eine verachtenswerte Handlung nach der anderen begangen. Jennifer hatte eine ganze Reihe von Zeugen aufgeboten, die gegen Scott Norman aussagten, und Robert Di Silva konnte nichts dagegen tun.