»Bald. Ich sage dir Bescheid.«
Jennifer saß in Richter Lawrence Waldmans Büro. Sie hatte ihn über ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Die freundschaftlichen Telefonanrufe und Einladungen zum Essen hatten aufgehört. Nun, das ließ sich nicht ändern, dachte Jennifer. Sie mochte Lawrence Waldman, und sie bedauerte es, seine Freundschaft verloren zu haben, aber sie hatte ihre Wahl getroffen. In unbehaglichem Schweigen warteten sie auf Robert Di Silva und gaben sich nicht die Mühe, unverbindlich miteinander zu plaudern. Als der Staatsanwalt eintraf, begann die Unterredung.
Richter Waldman sage zu Jennifer: »Bobby sagt, Sie wollen einen Handel vorschlagen, ehe ich das Urteil über Lorenzo verkünde.«
»Das ist richtig.« Jennifer wandte sich an Staatsanwalt Di Silva. »Ich glaube, es wäre ein Fehler, Marco Lorenzo nach Sing Sing zu schicken. Er gehört nicht dorthin. Er ist ein illegaler Einwanderer. Ich finde, er sollte nach Sizilien deportiert werden, wo er herkam.«
Di Silva sah sie überrascht an. Er hatte die Deportierung empfehlen wollen, aber wenn Jennifer Parker das auch wollte, dann mußte er seine Entscheidung umstoßen. »Warum schlagen Sie das vor?« fragte er. »Aus verschiedenen Gründen. Erstens wird ihn das davon abhalten, hier noch weitere Verbrechen zu begehen, und...«
»Eine Zelle in Sing Sing hätte den gleichen Effekt.« »Lorenzo ist ein alter Mann. Er wird es nicht aushalten, eingesperrt zu werden. Er wird durchdrehen, wenn man ihn ins Gefängnis steckt. Seine ganzen Freunde sind in Sizilien. Dort kann er in der Sonne leben und in Frieden in den Armen seiner Familie sterben.«
Di Silvas Mund wurde schmal vor Wut. »Wir reden von einem Verbrecher, der sein Leben damit zugebracht hat, zu rauben, zu töten und Frauen zu vergewaltigen, und Sie machen sich darüber Sorgen, ob er auch bei seinen Freunden in der Sonne sein kann?« Er wandte sich an Richter Waldman. »Sie ist phantastisch!«
»Marco Lorenzo hat ein Recht auf...« Di Silva schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er hat überhaupt keine Rechte! Er ist der Erpressung und des Raubes schuldig gesprochen worden.«
»Wenn in Sizilien ein Mann...«
»Er ist nicht in Sizilien, verdammt noch mal!« schrie Di Silva. »Er ist hier! Er hat die Verbrechen hier begangen, und hier wird er auch dafür bezahlen.« Er stand auf. »Euer Ehren, wir verschwenden Ihre Zeit. Der Staat lehnt jeden Handel in diesem Fall ab. Wir bitten darum, daß Marco Lorenzo nach Sing Sing geschickt wird.«
Richter Waldman wandte sich an Jennifer. »Haben Sie noch etwas zu sagen?«
Sie blickte Robert Di Silva ärgerlich an. »Nein, Euer Ehren.« Richter Waldman sagte: »Das Urteil wird morgen verkündet werden. Sie sind beide entlassen.«
Di Silva und Jennifer erhoben sich und verließen das Büro. Im Korridor wandte sich der Staatsanwalt an Jennifer und lächelte. »Scheint nicht mehr alles zu Gold zu werden, was Sie berühren, Frau Kollegin.«
Jennifer zuckte mit den Schultern. »Man kann nicht immer gewinnen.«
Fünf Minuten später rief sie Michael Moretti aus einer Telefonzelle an.
»Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Marco Lorenzo wird nach Sing Sing kommen.«
41
Die Zeit floß dahin wie ein Fluß ohne Ufer, Quelle oder Mündung. Sie zerfiel nicht mehr in Winter, Frühling, Herbst oder Sommer, sondern in Geburtstage und freudige, traurige oder schmerzliche Ereignisse. Es gab gewonnene und verlorene Prozesse, die Wirklichkeit Michaels und die Erinnerung an Adam. Aber in erster Linie war Joshua das Maß der Zeit, ein täglicher Kalender, an dem sich ablesen ließ, wie schnell die Jahre verstrichen.
Er war unglaublicherweise schon sieben. Über Nacht, so schien es, hatten Sport und Modellflugzeuge die Buntstifte und Bilderbücher ersetzt. Joshua war groß geworden, und er ähnelte seinem Vater jeden Tag mehr, aber nicht nur in der körperlichen Erscheinung. Er war sensibel, höflich, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Fairneß. Wenn Jennifer ihn für etwas bestrafte, protestierte Joshua trotzig: »Ich bin zwar erst einen Meter zwanzig groß, aber ich habe auch meine Rechte.«
Er war eine Miniaturausgabe von Adam, mit der gleichen Vorliebe für Sport. Am Wochenende sah er sich jede Sportsendung im Fernsehen an - Football, Baseball, Basketball, egal was. Am Anfang hatte Jennifer ihn allein zuschauen lassen, aber als er hinterher versucht hatte, mit ihr über die Spiele zu diskutieren, und als sie dabei vollständig ins Schwimmen geraten war, hatte sie beschlossen, in Zukunft auch zuzuschauen. Und so saßen sie nebeneinander vor dem Fernsehapparat, mampften Popcorn und feuerten die Spieler an.
Eines Tages kehrte Joshua von einem Ballspiel nach Hause zurück, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht, und fragte: »Mama, können wir uns mal von Mann zu Mann unterhalten?«
»Sicher, Joshua.«
Sie setzten sich an den Küchentisch, und Jennifer bereitete ihm ein Erdnußbuttersandwich und goß ein Glas Milch ein. »Was hast du für Kummer?«
Seine Stimme klang ernsthaft und sehr besorgt. »Nun, ich habe die anderen Jungs reden gehört, und ich habe mich nur gefragt - glaubst du, daß es noch Sex gibt, wenn ich groß bin?«
Jennifer hatte einen schmalen Newport-Segler gekauft, und am Wochenende unternahmen sie und Joshua Segeltörns auf dem Sund. Jennifer beobachtete gern sein Gesicht, wenn er im Bug des Boots saß. Er trug ein aufgeregtes kleines Lächeln, er war ein geborener Segler wie sein Vater. Der Gedanke brachte Jennifer ruckartig wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie fragte sich, ob sie ihr Leben mit Joshua als Adams Stellvertreter zu leben versuchte. Alles, was sie mit ihrem Sohn unternahm -segeln, Theater, Sport im Fernsehen -, hatte sie auch schon mit seinem Vater getan. Jennifer sagte sich, daß sie nur das tat, was Joshua Spaß bereitete, aber sie war nicht sicher, ob sie sich selbst gegenüber völlig aufrichtig war. Sie beobachtete Joshua beim Einholen des Segels, seine Haut gebräunt von Wind und Sonne, ein glückliches Glühen auf dem Gesicht, und sie wußte, daß die Gründe unwichtig waren. Wichtig war allein, daß ihr Sohn mit dem Leben an ihrer Seite zufrieden war. Er war kein Abziehbild seines Vaters. Er war eine eigene Persönlichkeit, und Jennifer liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt.
42
Antonio Granelli starb, und Michael übernahm sein Königreich. Die Beerdigung war so pompös, wie es einem Mann vom Format des Paten anstand. Die Dons und Mitglieder aller Familien des Landes erschienen, um ihrem verblichenen Freund den Tribut zu zollen und den neuen capo ihrer Loyalität und Unterstützung zu versichern. Das FBI, im Schlepptau ein halbes Dutzend anderer Behörden, war ebenfalls da und fotografierte.
Rosa war erschüttert, denn sie hatte ihren Vater sehr geliebt, aber die Tatsache, daß ihr Ehemann den Platz ihres Vaters an der Spitze der Familie übernahm, war ihr Trost und Stolz.
Jennifer wurde für Michael von Tag zu Tag wertvoller. Wenn es irgendwo ein Problem gab, konsultierte er sie und niemand anderen. Thomas Colfax war nur noch ein lästiges Anhängsel. »Mach dir um ihn keine Sorgen«, sagte Michael zu Jennifer. »Er wird bald in den Ruhestand gehen.«
Das leise Summen des Telefons weckte Jennifer. Sie lag im Bett, lauschte einen Moment, dann setzte sie sich auf und warf einen Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch. Es war drei Uhr morgens. Sie hob den Hörer ans Ohr. »Hallo.« Es war Michael. »Kannst du dich rasch anziehen?« Jennifer blinzelte und versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. »Was ist los?«
»Eddie Santini wurde gerade wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet. Es ist bereits das zweite Mal wegen des gleichen Vergehens. Wenn er schuldig gesprochen wird, schmeißen sie die Schlüssel weg.«
»Irgendwelche Zeugen?«
»Drei, und alle haben ihn genau gesehen.«