Das Great Shanghai war ein riesiges, lärmerfülltes Restaurant, das zum größten Teil von Eingeborenen bevölkert war, die laut aßen und redeten. Auf einer Bühne spielte eine Drei-Mann-Band, und ein attraktives Mädchen in einem Cheongsam sang amerikanische Schlager.
Der Oberkellner fragte Jennifer: »Ein Tisch für eine Person?«
»Ich bin hier verabredet. Mit Inspektor Touh.« Das Gesicht des Oberkellners teilte sich in ein breites Lächeln. »Der Inspektor wartet bereits auf Sie. Hier entlang, bitte.« Er führte Jennifer zu einem Tisch in der Nähe der Band. Inspektor David Touh war ein großer, schlanker, attraktiver Mann von Anfang Vierzig mit feinen Gesichtszügen und dunklen, feuchten Augen. Er trug einen dunklen, gutgeschnittenen Anzug.
Er hielt Jennifers Stuhl, dann setzte er sich selber. Die Band spielte einen ohrenbetäubenden Rocksong. Inspektor Touh beugte sich vor und fragte: »Darf ich Ihnen einen Drink bestellen?«
»Ja, danke.«
»Sie müssen einen chendol versuchen.«
»Einen was?«
»Einen Drink mit Kokosnußmilch, Kokoszucker und kleinen Gelatinestückchen. Er wird Ihnen schmecken.« Der Inspektor sah auf, und sofort war eine Kellnerin an ihrem Tisch. Der Inspektor bestellte die Drinks und dim sum, chinesische Appetitanreger. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich auch das Essen für Sie auswähle.«
»Ganz und gar nicht. Es wäre mir ein Vergnügen.«
»Ich weiß, daß in Ihrem Land die Frauen daran gewöhnt sind, das Ruder in die Hand zu nehmen. Hier hat noch immer der Mann zu sagen.«
Ein männlicher Chauvinist, dachte Jennifer, aber sie hatte keine Lust, sich zu streiten. Sie brauchte diesen Mann. Wegen des unvorstellbaren Getöses und der Musik war es fast unmöglich, ein Gespräch zu führen. Jennifer lehnte sich zurück und blickte sich im Raum um. Sie war schon in anderen orientalischen Ländern gewesen, aber die Menschen in Singapur waren außerordentlich schön, Männer und Frauen gleichermaßen.
Die Kellnerin stellte Jennifers Drink vor sie hin. Er erinnerte an ein Schokoladensoda, mit schlüpfrigen Klumpen darin. Inspektor Touh beobachtete sie. »Sie müssen ihn umrühren.«
»Ich kann Sie nicht verstehen.« Er brüllte: »Sie müssen ihn umrühren!« Gehorsam rührte Jennifer ihren Drink um. Sie kostete. Er war schrecklich, viel zu süß, aber sie nickte und sagte: »Er - er ist ungewöhnlich.«
Ein halbes Dutzend Teller mit dim sum erschienen auf dem Tisch. Einige dieser Köstlichkeiten hatten höchst ungewöhnliche Formen, die Jennifer noch nie gesehen hatte, aber sie beschloß,nicht zu fragen. Das Essen war hervorragend. Inspektor Touh brüllte Erklärungen: »Dieses Restaurant ist bekannt für sein Essen im Nonya-Stil. Es handelt sich um eine Mischung aus chinesischen Zutaten und malayischen Soßen. Die Rezepte sind nirgendwo niedergeschrieben.«
»Ich möchte mit Ihnen über Stefan Bjork reden«, sagte Jennifer.
»Ich kann Sie nicht verstehen.« Der Lärm der Band hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.
Jennifer beugte sich näher zu Touh. »Ich möchte wissen, wann ich Stefan Bjork sehen kann.«
Inspektor Touh zuckte mit den Schultern und gestikulierte, daß er sie nicht verstehen konnte. Jennifer fragte sich plötzlich, ob er diesen Tisch ausgewählt hatte, damit sie ungehört reden konnten oder damit jegliches Gespräch unmöglich war.
Eine endlose Prozession von Speisen folgte auf die dim sum, und es war ein überwältigendes Mahl. Das einzige, was Jennifer störte, war, daß sie nicht ein einziges Mal das Thema Stefan Bjork zur Sprache bringen konnte.
Als sie zu Ende gegessen hatten und wieder auf der Straße waren, sagte Inspektor Touh: »Ich habe meinen Wagen da.« Er schnippte mit den Fingern, und ein schwarzer Mercedes, der in der zweiten Reihe geparkt hatte, rollte heran. Der Inspektor öffnete Jennifer die Hintertür. Ein mächtiger, uniformierter Polizist saß am Steuer. Irgend etwas stimmte nicht. Wenn Inspektor Touh vertrauliche Dinge mit mir besprechen wollte, dachte Jennifer, dann hätte er dafür gesorgt, daß wir alleine sind. Sie nahm auf dem Rücksitz Platz, und der Inspektor glitt neben sie.
»Sie sind das erste Mal in Singapur, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ah, dann gibt es viel für Sie zu sehen.«
»Ich bin nicht als Tourist hier, Inspektor. Ich muß so schnell wie möglich wieder nach Hause zurück.« Der Inspektor seufzte. »Ihr Amerikaner seid immer in einer solchen Hetze. Haben Sie schon einmal von der Bugisstraße gehört?«
»Nein.«
Jennifer veränderte ihre Stellung, so daß sie Inspektor Touh studieren konnte. Er hatte ein sehr bewegliches Gesicht, und seine Gesten waren ausdrucksvoll. Er wirkte extrovertiert und redselig, und dennoch schaffte er es, seit Stunden praktisch nichts zu sagen.
Der Wagen mußte wegen eines betjaks halten, eines dreirädrigen Fahrrads, mit dem eingeborene Fahrer Touristen beförderten. Inspektor Touhs Gesicht hatte einen verächtlichen Ausdruck angenommen. »Eines Tages werden wir das verbieten.«
Jennifer und der Inspektor verließen den Wagen einen Block von der Bugisstraße entfernt.
»Hier sind keine Automobile erlaubt«, erklärte Touh. Er nahm Jennifers Arm, und sie begannen, den belebten Bürgersteig entlangzugehen. Nach ein paar Minuten war die Menge so dicht, daß es fast unmöglich wurde, sich zu bewegen. Die Bugisstraße war eng und zu beiden Seiten von Ständen gesäumt, an denen Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch feilgeboten wurden. Es gab Terrassenrestaurants mit kleinen, von Stühlen umgebenen Tischen. Jennifer blieb stehen und sog Farben, Geräusche und Gerüche, die ganze fremdartige Szenerie ein. Inspektor Touh nahm ihren Arm und bahnte ihr einen Weg durch die Menge. Sie erreichten ein Restaurant mit drei Tischen davor, die alle besetzt waren. Der Inspektor ergriff den Arm eines vorbeieilenden Kellners, und einen Augenblick später war der Eigentümer an ihrer Seite. Der Inspektor sagte ein paar Worte auf chinesisch zu ihm. Der Chef ging zu einem der Tische und redete mit den Gästen. Sie sahen zu Inspektor Touh her und standen dann hastig auf, um zu verschwinden. Der Inspektor und Jennifer nahmen an dem Tisch Platz.
»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«
»Nein, danke.« Jennifer beobachtete das Menschengewimmel, das sich auf der Straße und den Bürgersteigen drängte. Unter anderen Umständen hätte sie den Abend genossen. Singapur war eine faszinierende Stadt, eine Stadt, die man mit einem Menschen erleben mußte, der einem etwas bedeutete. Inspektor Touh sagte: »Passen Sie auf. Es ist beinahe Mitternacht.«
Jennifer wußte zuerst nicht, was er meinte. Dann bemerkte sie, daß alle Geschäftsleute gleichzeitig ihre Stände zu schließen begannen. Innerhalb von zehn Minuten waren alle Stände abgesperrt, die Besitzer verschwunden. »Was geht da vor?« fragte Jennifer. »Das werden Sie gleich sehen.«
Vom Ende der Straße drang ein Murmeln, und die Menschen zogen sich auf die Bürgersteige zurück. Ein breiter Streifen der Straße war jetzt frei. Ein chinesisches Mädchen in einem langen, enganliegenden Abendkleid wandelte in der Mitte des Streifens. Sie war die schönste Frau, die Jennifer je gesehen hatte. Sie schritt stolz und langsam dahin und blieb hin und wieder an verschiedenen Tischen stehen, um Leute zu begrüßen, ehe sie weiterging.
Als das Mädchen sich dem Tisch näherte, an dem Jennifer und der Inspektor saßen, konnte Jennifer es genauer betrachten, und aus der Nähe war es sogar noch attraktiver. Seine Gesichtszüge waren weich und feingeschnitten, die Figur war atemberaubend. Das an den Seiten hochgeschlitzte weiße Seidenkleid ließ hinreißend geschwungene Schenkel und kleine, perfekte Brüste erkennen.
Als Jennifer sich an den Inspektor wandte, um eine Bemerkung fallenzulassen, erschien ein zweites Mädchen. Es war womöglich noch schöner als das erste. Hinter ihr kamen zwei weitere, und binnen weniger Sekunden war die Straße mit
jungen Mädchen überflutet. Sie waren eine Mischung aus malayischen, indischen und chinesischen Einflüssen. »Es sind Prostituierte, nicht wahr?« riet Jennifer. »Ja, Transsexuelle.«