Jennifer starrte ihn an. Das war doch nicht möglich. Sie beobachtete wieder die Mädchen. Sie konnte absolut nichts Männliches an ihnen erkennen. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Sie werden die Billy Boys genannt.« Jennifer war verwirrt. »Aber sie...«
»Sie haben sich alle operieren lassen. Sie halten sich für Frauen.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum auch nicht? Sie tun niemandem weh. Sie müssen wissen«, fügte er hinzu, »daß Prostitution bei uns verboten ist. Aber die Billy Boys locken Touristen an, und solange sie die Gäste nicht belästigen, drückt die Polizei ein Auge zu.«
Jennifer konnte ihre Blicke nicht von den vollkommenen jungen Leuten wenden, die sich die Straße hinunterbewegten und an den Tischen stehenblieben, um Kunden für sich zu interessieren.
»Es geht ihnen nicht schlecht. Sie berechnen bis zu zweihundert Dollar.«
Die meisten Mädchen saßen jetzt bei Männern an den Tischen und feilschten. Eine nach der anderen standen sie auf und verschwanden mit ihren Kunden.
»Die meisten bringen es auf zwei oder drei Transaktionen pro Nacht«, erklärte der Inspektor. »Sie übernehmen die Bugisstraße um Mitternacht, und um sechs Uhr morgens müssen sie verschwunden sein, damit die Stände wieder öffnen können. Wenn Sie soweit sind, können wir gehen.«
»Ich bin soweit.«
Während sie die Straße hinuntergingen, tauchte Ken Baileys Bild vor Jennifers innerem Auge auf, und sie dachte: Ich hoffe,es geht dir gut und du bist glücklich.
Auf dem Weg zurück zum Hotel entschloß sich Jennifer -Chauffeur hin, Chauffeur her -, die Rede auf Bjork zu bringen.
Als der Wagen sich ihrem Hotel näherte, sagte sie: »Wegen Stefan Bjork...«
»Ach ja. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie ihn morgen früh um zehn Uhr besuchen können.«
55
In Washington wurde Adam Warner aus einer Konferenz gerufen, weil er telefonisch dringend aus New York verlangt wurde.
Staatsanwalt Di Silva war am Apparat. Er frohlockte. »Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Wir können jederzeit losschlagen.« Er erhielt keine Antwort. »Sind Sie noch dran, Senator?«
»Ja.« Adam zwang sich, begeistert zu klingen. »Das sind ja gute Nachrichten.«
»Innerhalb von vierundzwanzig Stunden müßten wir sie einkreisen können. Wenn Sie nach New York kämen, sollten wir morgen früh eine letzte Konferenz abhalten, damit wir unsere Züge koordinieren können. Wäre das möglich, Senator?«
»Ja«, sagte Adam.
»Ich bereite alles vor. Zehn Uhr morgen früh.«
»Bis dann.« Adam legte den Hörer auf. Die Grand Jury hat gerade die Anklageverfügungen ausgesprochen, um die wir sie ersucht haben. In jedem einzelnen Fall. Adam nahm den Hörer wieder auf und begann zu wählen.
56
Das Besuchszimmer im Changi-Gefängnis war ein kleiner, kahler Raum mit weißverputzten Wänden und einem langen Tisch mit harten Holzstühlen zu beiden Seiten. Jennifer saß auf einem der Stühle. Sie wartete. Als Stefan Bjork, begleitet von einem uniformierten Wärter, eintrat, blickte sie auf. Bjork war etwa dreißig, ein großer Mann mit einem düsteren Gesicht und hervorquellenden Augen. Er hat es an den Schilddrüsen, dachte Jennifer. Auf Bjorks Wangen und Stirn leuchteten Prellungen. Er nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz.
»Ich bin Jennifer Parker, Ihre Anwältin. Ich werde versuchen, Sie hier herauszuholen.«
Er blickte sie an: »Am besten beeilen Sie sich etwas damit.« Es klang wie eine Drohung. Jennifer dachte an Michaels Worte: Ich möchte, daß du ihn auf Kaution herausholst, ehe er zu singen anfängt.
»Werden Sie gut behandelt?«
Er warf einen versteckten Blick zu dem Wärter an der Tür. »Ja. Es geht.«
»Ich habe beantragt, Sie auf Kaution freizulassen.«
»Wie stehen die Chancen?« Bjork war unfähig, die Hoffnung in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Ich glaube, ganz gut. Es wird längstenfalls noch zwei oder drei Tage dauern.« »Ich muß hier 'raus.« Jennifer stand auf. »Wir werden uns bald wiedersehen.«
»Danke«, sagte Stefan Bjork. Er streckte seine Hand aus. Der Wärter rief scharf: »Nein!« Beide wandten sich um. »Keine Berührung.«
Stefan Bjork warf Jennifer einen Blick zu und sagte heiser:
»Beeilen Sie sich!«
Als Jennifer wieder im Hotel war, fand sie eine Nachricht vor. Inspektor Touh hatte angerufen. Während sie die Zeilen überflog, klingelte das Telefon. Es war der Inspektor. »Ich dachte, daß Sie vielleicht gern eine kleine Stadtrundfahrt unternehmen würden, während Sie warten, Miß Parker.«
Zuerst wollte Jennifer ablehnen, aber dann überlegte sie, daß sie nichts tun konnte, bis sie Bjork sicher in einem Flugzeug aus Singapur herausgebracht hatte, und so lange war es wichtig, Inspektor Touh bei Laune zu halten. Jennifer sagte: »Danke schön. Das würde mir Spaß machen.«
Sie aßen bei Kampachi zu Mittag und fuhren dann aufs Land hinaus. Sie nahmen die Bukit-Timan-Straße nach Malaysia und kamen durch eine Reihe farbenprächtiger kleiner Dörfer voller Lebensmittelstände und Geschäfte. Die Menschen waren gut gekleidet und wirkten wohlhabend. Jennifer und Inspektor Touh hielten am Friedhof von Kranji und stiegen die Stufen zu den großen blauen Toren hinauf. Vor ihnen erhob sich ein großes Marmorkreuz und im Hintergrund eine riesige Säule. Dazwischen erstreckte sich ein Meer weißer Kreuze.
»Der Krieg war sehr schlimm für uns«, sagte Inspektor Touh. »Wir alle haben viele Freunde und Familienmitglieder verloren.«
Jennifer sagte nichts. Vor ihrem inneren Auge stieg ein Grab in Sands Point auf. Aber sie durfte nicht daran denken, was unter dem kleinen Hügel lag.
Bei der Nachrichtendiensteinheit der Polizei in Manhattan fand eine Konferenz verschiedener Dienststellen zur Verbrechensbekämpfung statt. Eine Stimmung von Triumph und Aufregung hing in der Luft. Viele der Männer hatten die Tatsache einer weiteren Untersuchung lange Zeit mit Zynismus betrachtet. Jahr um Jahr hatten sie immer wieder überwältigendes Beweismaterial gegen Schläger, Mörder und Erpresser zusammengetragen, und in einem Fall nach dem anderen hatten teure, gerissene Anwälte Freispruch über Freispruch für die Verbrecher, die sie vertraten, erreicht. Diesmal würde der Hase in die andere Richtung laufen. Sie hatten die Zeugenaussage von consigliere Thomas Colfax, und niemand würde das erschüttern können. Über fünfundzwanzig Jahre war Colfax die Radnabe der Mafia gewesen. Er würde vor Gericht auftreten und Namen, Daten, Fakten und Zahlen nennen. Und bald würden sie das Zeichen zum Losschlagen erhalten.
Adam hatte härter als alle anderen in diesem Raum gearbeitet, um zu diesem Punkt zu gelangen. Es hatte der Triumphwagen werden sollen, der ihn direkt ins Weiße Haus transportieren sollte. Und jetzt, wo der Augenblick da war, schmeckte der Sieg nach Asche. Vor Adam lag eine Liste mit Leuten, die von der Grand Jury unter Anklage gestellt worden waren. Der vierte Name auf der Liste war der von Jennifer Parker, und sie wurde des Mordes und der Verschwörung zu einem halben Dutzend anderer Kapitalverbrechen beschuldigt. Adam Warner blickte sich im Raum um und zwang sich, ein paar Worte zu sagen. »Ich - ich möchte Ihnen allen gratulieren.«
Er versuchte, noch mehr zu sagen, aber er brachte kein weiteres Wort heraus. Er war von solchem Abscheu vor sich selber erfüllt, daß es fast körperlich schmerzte.
Die Spanier haben recht, dachte Michael Moretti. Rache schmeckt am besten, wenn man sie kalt genießt. Der einzige Grund, aus dem Jennifer Parker noch lebte, lag in ihrer Abwesenheit. Sie war außer Reichweite. Aber bald würde sie zurückkehren. Und in der Zwischenzeit konnte Michael sich ausmalen, was er mit ihr anstellen würde. Sie hatte ihn auf jede nur mögliche Weise betrogen. Deswegen würde er sie mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln.