In Singapur versuchte Jennifer, zu Michael durchzukommen.
»Es tut mir leid«, sagte die Telefonistin, »aber alle Leitungen in die Vereinigten Staaten sind belegt.«
»Würden Sie es bitte weiter versuchen?«
»Natürlich, Miß Parker.«
Das Mädchen sah zu dem Mann neben dem Schaltbrett auf und lächelte ihm verschwörerisch zu.
In seinem Hauptquartier blickte Robert Di Silva auf einen Haftbefehl, der ihm gerade zugestellt worden war. Der Name auf dem Papier lautete Jennifer Parker. Endlich habe ich sie, dachte er. Und er verspürte wilde Genugtuung.
Die Telefonistin verkündete: »Inspektor Touh wartet im Foyer auf Sie.«
Jennifer war überrascht, denn sie hatte den Inspektor nicht erwartet. Er mußte Neuigkeiten von Stefan Bjork haben. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Halle. »Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht angerufen habe«, entschuldigte der Inspektor sich. »Ich dachte, ich rede am besten persönlich mit Ihnen.«
»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Wir können uns im Wagen unterhalten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Sie fuhren die Yio-Chu-Kang-Straße entlang. »Gibt es Probleme?« fragte Jennifer.
»Überhaupt nicht. Übermorgen wird die Kaution festgesetzt.« Wohin brachte er sie dann?
Sie passierten einen Gebäudekomplex an der Jalan Goatopah-Straße, und der Fahrer hielt an.
Inspektor Touh wandte sich an Jennifer. »Ich bin sicher, das wird Sie interessieren.«
»Was denn?«
»Kommen Sie mit, Sie werden schon sehen.« Das Innere des Gebäudes, das sie betraten, wirkte alt und heruntergekommen. Ein überwältigender, wilder und primitiver Moschusgestank hing in der Luft. Er war anders als alles, was Jennifer je gerochen hatte.
Ein junges Mädchen eilte auf sie zu und fragte: »Möchten Sie eine Begleitung haben? Ich...«
Der Inspektor winkte sie zur Seite. »Wir brauchen dich nicht.« Er nahm Jennifers Arm, und sie gingen ins Freie auf ein Gelände hinter dem Gebäude. Vor ihnen lag ein halbes Dutzend in die Erde versenkter Becken, aus denen seltsame, gleitende Geräusche drangen. Jennifer und Inspektor Touh erreichten das erste Gehege. Auf einem Schild stand: Nicht zu nah an die Becken treten. Gefahr! Jennifer blickte hinein. In dem Becken wimmelte es von Krokodilen und Alligatoren, die sich in ständiger Bewegung befanden, über- und untereinander glitten. Es mußten mindestens dreißig sein. Jennifer erschauerte. »Wo sind wir?«
»Das ist eine Krokodilfarm.« Er starrte zu den Reptilien hinein. »Wenn sie zwischen drei und sechs Jahre alt sind, werden sie gehäutet und zu Handtaschen, Gürteln und Schuhen verarbeitet. Wie Sie sehen, haben die meisten ihre Mäuler offen. Auf diese Weise faulenzen sie. Erst wenn sie die Mäuler schließen, muß man vorsichtig sein.« Sie gingen zu einem anderen Becken, in dem zwei riesige Alligatoren lagen. »Die hier sind fünfzehn Jahre alt. Sie sind nur zur Fortpflanzung da.«
Jennifer schüttelte sich. »Mein Gott, sind die häßlich. Wie können die sich nur gegenseitig ertragen!« Inspektor Touh sagte: »Tatsächlich können sie das auch nicht. Sie paaren sich nicht sehr oft.«
»Sie wirken richtig urzeitlich.«
»Genau. Sie sind Millionen Jahre alt und haben immer noch dieselben primitiven Verhaltensweisen wie zu Beginn der Zeiten.«
Jennifer fragte sich, warum Touh sie hergebracht hatte. Wenn er glaubte, diese scheußlich aussehenden Bestien interessierten sie, hatte er sich getäuscht. »Können wir gehen?« fragte sie.
»Gleich.« Der Inspektor sah zu dem jungen Mädchen hinüber, das sie am Eingang getroffen hatten. Es trug einen Eimer zu dem ersten Becken.
»Heute ist Futtertag«, sagte Touh. »Passen Sie auf.« Er führte Jennifer zurück zum ersten Becken. »Alle drei Tage werden sie mit Fisch und Schweinelungen gefüttert.« Das Mädchen begann, das Futter in das Gehege zu werfen, und sofort verwandelten sich die Bestien in eine kochende, brodelnde Masse. Sie stießen auf das rohe, blutige Fleisch zu und schlugen ihre Saurierfänge hinein. Vor Jennifers Augen stürzten sich zwei von ihnen auf dasselbe Stück und wandten sich sofort gegeneinander. Verbissen griffen sie sich mit Zähnen und Schwanzhieben an, und bald füllte sich das Becken mit Blut. Das eine Krokodil hatte seine Zähne tief in die Kiefer des anderen vergraben und ließ nicht mehr los, obwohl sein Augapfel halb herausgerissen war. Als das Blut stärker hervorströmte und das Wasser verfärbte, beteiligten sich die anderen Tiere an dem Kampf und fielen über ihre verwundeten Artgenossen her. Sie rissen an ihren Köpfen, bis das Fleisch bloßlag, und begannen, sie bei lebendigem Leib zu verspeisen.
Jennifer wurde übel. »Bitte, lassen Sie uns gehen.« Inspektor Touh legte die Hand auf ihren Arm. »Einen Augenblick.«
Er konnte sich nicht abwenden, und erst nach einer Weile ließ er Jennifer gehen.
In der Nacht träumte Jennifer davon, wie die Krokodile miteinander gekämpft und sich in Stücke gerissen hatten. Zwei von ihnen verwandelten sich plötzlich in Michael und Adam, und in der Mitte des Alptraums erwachte sie zitternd und konnte nicht wieder einschlafen.
Die Razzien begannen. In einem Dutzend verschiedener Staaten und mindestens sechs fremden Ländern schlugen die Männer des Bundes und der lokalen Polizeibehörden gleichzeitig zu.
In Ohio wurde ein Senator verhaftet, während er gerade vor einem Frauenverein eine Rede über Redlichkeit in der Regierung hielt.
In New Orleans wurde ein illegales Buchmacherunternehmen geschlossen.
In Amsterdam wurden Diamantenschmuggler auf frischer Tat ertappt.
Ein Bankmanager in Gary, Indiana, wurde unter der Beschuldigung festgenommen, er habe schmutziges Geld der Organisation weißgewaschen.
In Kansas City fand eine Razzia in einem großen Diskontgeschäft statt, das bis unters Dach mit gestohlenen Waren gefüllt war.
In Phoenix, Arizona, wurde ein halbes Dutzend Detektive der Sittenpolizei unter Arrest gestellt. In Neapel wurde eine Kokainfabrik beschlagnahmt. In Detroit wurde ein im ganzen Land tätiger Ring von Autodieben geknackt.
Da er Jennifer telefonisch nicht erreichen konnte, suchte Adam Warner ihr Büro auf. Cynthia erkannte ihn augenblicklich.
»Es tut mir leid, Senator Warner, Miß Parker ist außer Landes.«
»Wo hält sie sich auf?«
»Im Shangri- La Hotel in Singapur.«
Adams Hoffnungen stiegen wieder. Er konnte sie anrufen und davor warnen, zurückzukehren.
Der Etagenkellner betrat die Suite, als Jennifer gerade unter der Dusche hervorkam. »Entschuldigen Sie. Wann reisen Sie heute ab?« »Ich reise nicht heute ab, sondern morgen.« Der Etagenkellner wirkte verwirrt. »Mir wurde aufgetragen, die Suite für eine heute abend eintreffende Reisegruppe fertigzumachen.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Der Geschäftsführer.«
In der Telefonzentrale ging ein Anruf aus Übersee ein. Diesmal hatte eine andere Telefonistin Dienst, und ein anderer Mann stand bei ihr.
Die Telefonistin sprach in ihr Mundstück. »Ein Anruf aus New York City für Miß Jennifer Parker?« Sie blickte den Mann neben der Schalttafel an. Er schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid. Miß Parker ist schon vor einiger Zeit abgereist.«
Die Razzien gingen weiter. Auf Honduras, in San Salvador, Mexiko und der Türkei, überall wurden Verhaftungen vorgenommen. Dealer, Killer, Bankräuber und Brandstifter wurden in das ausgeworfene Netz geschwemmt. Es gab Festnahmen in Fort Lauderdale, Atlantic City und Palm Springs. Ein Ende war noch nicht in Sicht.
In New York verfolgte Robert Di Silva jeden Fortschritt, und sein Herz klopfte schneller, wenn er daran dachte, wie sich das Netz um Jennifer Parker und Michael Moretti zusammenzog.