»Ja, ja!« rief d'Artagnan, »ich sehe ihn.«
»Abermals er,« sprach Porthos, und holte dabei Atem wie ein Schmiedeblasebalg, »ha, er ist wie von Eisen.«
»O Gott!« seufzte Athos. Aramis und d'Artagnan flüsterten sich ins Ohr. Mordaunt machte noch einige Stöße, streckte dann eine Hand als Notzeichen aus dem Wasser und rief:
»Erbarmen, im Namen des Himmels, Erbarmen, meine Herren! Ich fühle, daß mich meine Kräfte verlassen, daß ich untergehe.« Die hilferufende Stimme wurde so bebend, daß sie auf dem Grunde von Athos' Heizen Mitleid erregte.
»Der Unglückliche!« murmelte er.
»Gut,« sprach d'Artagnan, »nun geht Euch nur noch ab, daß Ihr ihn bedauert. Fürwahr, ich glaube, er schwimmt zu uns heran. Denkt er etwa, wir werden ihn aufnehmen? Rudert, Porthos, rudert!« Zugleich gab d'Artagnan das Beispiel, senkte das Ruder ins Meer, und nach zwei Ruderschlägen entfernte sich die Barke um zwanzig Klafter.
»O, Ihr werdet mich nicht verlassen, daß ich umkomme! Ihr werdet nicht ohne Barmherzigkeit sein!« klagte Mordaunt.
»O,« rief Porthos Mordaunt zu, »ich denke, daß wir Euch endlich haben. Wackerer, und daß Ihr da zur Flucht keine andere Pforte mehr habt als die Hölle.«
»O Porthos,« murmelte der Graf de la Fere.
»Gebt Ruhe. Athos! in der Tat, Ihr macht Euch lächerlich mit Eurer ewigen Großmut. Ich erkläre Euch vor allem, wenn er sich auf zehn Fuß weit der Barke nähert, so zerschmettere ich ihm den Kopf mit einem Ruderschlage.«
»O Barmherzigkeit! flieht mich nicht, meine Herren, Barmherzigkeit! ... fühlt doch Mitleid mit mir,« wehklagte der junge Mann, dessen keuchender Odem bisweilen das Wasser wirbeln ließ, wenn sein Kopf unter den Wellen verschwand. D'Artagnan, der jeder Bewegung Mordaunts mit den Augen folgte, unterbrach seine Unterredung mit Aramis, stand auf und sagte, zu dem Schwimmer gewendet:
»Entfernt Euch gefällig, mein Herr, Eure Reue ist zu neu, als daß wir in sie ein großes Vertrauen setzten: bedenkt, daß das Schiff, worin Ihr uns habt braten wollen, noch einige Fuß unter dem Wasser dampft, und daß die Lage, in welcher Ihr seid, ein Bett von Rosen ist im Vergleich mit dem, in welches Ihr uns betten wolltet, und in das Ihr Herrn Groslow und seine Matrosen gebettet habt.« Mordaunt machte neuerliche Anstrengungen, sich zu nähern, und streckte die Hand nach dem Bootsrand aus. Als d'Artagnan das sah, befahl er, zum Erstaunen der übrigen Bootsinsassen, den Schwimmer nicht zu hindern; und als dieser dem Boot bis auf Armeslänge nahe gekommen war, zog d'Artagnan mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Dolch und stieß ihn dem Verräter in die Brust. Zwei Sekunden später war der Gerichtete von den Wellen verschlungen. Zwischen den Insassen des Bootes herrschte ein lastendes Schweigen, das d'Artagnan erst nach geraumer Zeit unterbrach, indem er mit fester Stimme sprach:
»Endlich hat Gott gesprochen! Nicht ich habe ihn getötet, sondern die Vorsehung!«
Wie Mousqueton, nachdem er der Gefahr entronnen war, gebraten zu werden, beinahe aufgegessen worden wäre
Auf den soeben mitgeteilten schrecklichen Vorfall trat in der Barke ein langes, tiefes Stillschweigen ein; der Mond, der auf ein Weilchen hervorgetreten war, als habe es Gott gewollt, das kein Umstand dieses Ereignisses vor den Augen der Zuschauer verborgen bliebe, verschwand wieder hinter den Wollen; alles kehrte in die Dunkelheit zurück. Porthos brach das Schweigen zuerst und sagte: »Ich habe schon so mancherlei gesehen, doch erschütterte mich noch nichts so sehr wie das, was ich soeben sah. Allein, wie ich auch ergriffen bin, so erkläre ich Euch doch, daß ich mich überaus glücklich fühle. Ich trage einen Zentner weniger auf der Brust und kann endlich wieder frei atmen.« Porthos atmete auch wirklich mit einem Geräusche, das dem mächtigen Spiele seiner Lunge Ehre machte. »Was mich betrifft,« versetzte Aramis, »so sage ich nicht so viel wie Ihr, Porthos; ich bin noch voll Schrecken, ja, ich bin es in dem Maße, daß ich meinen Augen nicht traue, daß ich an dem zweifle, was ich sah, daß ich rings um die Barke spähe und jeden Augenblick diesen Ruchlosen mit dem Dolche, den er im Herzen hatte, nun in der Hand wieder erscheinen zu sehen glaube.« »O, darüber bin ich beruhigt,« entgegnete Porthos, »der Stoß war gegen die sechste Rippe geführt und der Dolch drang bis an den Griff hinein. Ich mache Euch deshalb keinen Vorwurf, Athos. So muß man treffen, wenn man trifft. Auch ich lebe jetzt, ich atme und bin wohlgemut.« »Porthos,« sagte d'Artagnan, »übereilt Euch nicht in Eurem Siegesjubel; wir haben noch nie eine größere Gefahr bestanden, als in diesem Augenblicke, denn ein Mensch wird mit einem Menschen fertig, allein nicht mit einem Elemente. Jetzt sind wir aber des Nachts ohne Führer in einem zerbrechlichen Fahrzeuge auf der See; schlägt ein Windstoß das Schiff um, so sind wir alle verloren.« Mousqueton stieß einen tiefen Seufzer aus. »D'Artagnan,« sprach Athos, »Ihr seid undankbar, ja undankbar, da Ihr an der Vorsehung in dem Augenblicke zweifelt, wo sie uns so wunderbar errettet hat. Meint Ihr denn, daß sie uns, wo sie uns an der Hand leitend, so große Gefahren überstehen ließ, nachher aufgeben werde? O nein! wir fuhren mit dem Westwinde ab, der noch immer fortweht.« Athos orientierte sich über den Polarstern. »Dorthin ist das Siebengestirn, folglich ist dorthin Frankreich. Überlassen wir uns dem Winde, und so lange er nicht umschlägt, wird er uns nach den Küsten von Calais oder Boulogne treiben. Wenn die Barke umschlägt, so sind wir fünf jedenfalls stark genug und hinlänglich gute Schwimmer, um sie wieder aufzurichten, oder um uns daran zu klammern, wenn die Anstrengung fruchtlos wäre. Jetzt steuern wir aber in dem Fahrwasser aller Schiffe, welche von Dover nach Calais und von Portsmouth noch Boulogne segeln; wenn das Wasser die Spuren derselben behielte, so würden sie an der Stelle, wo wir eben sind, ein Tal ausgehöhlt haben. Sonach ist es unmöglich, daß wir mit dem Tage nicht irgendeinem Fischerkahne begegnen, der uns aufnehmen wird.« »Wenn wir aber doch keinem begegnen und der Wind nach Norden umschlägt?« »Dann ist es etwas anderes,« antwortete Athos; »wir fänden erst wieder Land an der anderen Küste des Atlantischen Ozeans.« »Das will so viel sagen, als, wir werden dann verhungern,« bemerkte Aramis. »Das ist mehr als wahrscheinlich,« versetzte der Graf de la Fere.
Auf einmal erhob Mousqueton einen Freudenschrei, während er seine mit einer Flasche ausgerüstete Hand in die Höhe schwang. »O,« sprach er, indem er Porthos die Flasche bot, »o, gnädiger Herr, wir sind gerettet; die Barke ist mit Lebensmitteln ausgestattet.« Er suchte nun lebhaft unter der Ruderbank, wo er bereits die kostbare Probe hervorgeholt hatte, und brachte allgemach ein Dutzend ähnlicher Flaschen, ein Brot und ein Stück Pökelfleisch zum Vorschein. Wir brauchen nicht anzuführen, daß auf diesen Fund wieder alle frohen Mutes wurden, Athos ausgenommen. »Beim Himmel!« rief Porthos, der schon hungrig war, wie man sich erinnern wird, als er in die Feluke stieg. »Es ist zum Erstaunen, wie hohl der Magen bei Gemütserschütterungen wird.« Er leerte mit einem Zuge eine Bouteille, und aß allein ein gutes Drittel von dem Brote und dem Pökelfleische. »Nun schlaft, meine Herren,« sprach Athos, »oder versucht es, zu schlafen; ich will wachen.«
Sonach hatte sich auch alsbald jeder voll Zuversicht zu dem Steuermann nach seiner Bequemlichkeit angelehnt und den von Athos erteilten Rat zu benützen versucht, indes er am Steuer sitzen blieb und bloß die Augen zum Himmel aufschlug, wo er zweifelsohne nicht allein den Weg nach Frankreich, sondern auch noch das Antlitz Gottes suchte, wobei er nachsann und wachte, wie er es versprochen, und das Schiff in der Richtung lenkte, die es zu nehmen hatte. Nach einigen Stunden des Schlafes wurden die Reisenden von Athos aufgeweckt. Der erste Schimmer des Tages begann, das bläuliche Meer zu bleichen, und etwa zehn Schußweiten vor sich bemerkte man eine schwarze Masse, über der sich ein dreieckiges, schmales und langes Segel, ähnlich dem Flügel einer Schwalbe, ausbreitete. »Ein Schiff!« riefen die drei Freunde mit einer Stimme, indes die Bedienten gleichfalls ihre Freude auf verschiedene Weise äußerten. Es war wirklich ein Transportschiff von Dünkirchen, das nach Boulogne steuerte. Die vier Herren nebst Blaisois und Mousqueton vereinigten ihre Stimmen zu einem Schrei, der auf der elastischen Wasserfläche erschallte, indes Grimaud, ohne zu rufen, seinen Hut auf das Ende seines Ruders steckte, um die Blicke derjenigen anzuziehen, die den Schall der Stimmen vernehmen würden. Eine Viertelstunde darauf nahm sie das Boot dieses Transportschiffes ins Schlepptau; sie setzten den Fuß auf das Verdeck des kleinen Fahrzeuges. Grimaud bot dem Patron im Namen seines Herrn zwanzig Guineen, und bei günstigem Winde betraten unsere Franzosen um neun Uhr früh den heimatlichen Boden. »Potz Element, wie fest man hier steht!« rief Porthos, während er seine breiten Füße in den Sand drückte. »Nun komme man, suche Streit mit mir, blicke mich scheel an oder reize mich, und man wird es sehen, mit wem man es zu tun hat. Morbleu, ich könnte jetzt ein ganzes Königreich herausfordern.« »Und ich,« versetzte d'Artagnan, »ich bitte Euch. Porthos, lasset, diese Herausforderung nicht so laut werden, denn mich dünkt, daß man uns hier zu scharf ins Auge faßt.« »Bei Gott,« erwiderte Porthos, »man bewundert uns.« »Nun,« entgegnete d'Artagnan, »ich versichere Euch, Porthos, daß ich darin gar keine Gegenliebe setze. Nur sehe ich Männer in dunklen Röcken, und ich bekenne, daß mich diese Röcke in unserer Lage erschrecken.« »Das sind die Zollbeamten des Hafens,« versetzte Aramis. Unter dem vorigen Kardinal, unter dem großen, hätte man auf uns mehr als auf die Waren geachtet; unter diesem aber, meine Freunde, seid ruhig, wird man mehr auf die Waren als auf uns achten.« »Ich baue nicht darauf,« sprach d'Artagnan, »und eile in die Dünen.« »Weshalb nicht in die Stadt?« versetzte Porthos; »ich würde ein gutes Gasthaus diesen garstigen Sandwüsten vorziehen, welche Gott nur für die Kaninchen erschaffen hat; zudem bin ich auch hungrig.« »Tut, was Ihr wollt, Porthos,« erwiderte d'Artagnan; »ich für meinen Teil bin überzeugt, daß für Leute in unserer Lage das freie Feld am sichersten ist.« D'Artagnan, der überzeugt war, die Stimmenmehrheit zu erhalten, verlor sich in die Dünen, ohne daß er auf Porthos' Antwort wartete Die kleine Schar folgte ihm, und verlor sich alsbald hinter den Sandhügeln, nicht ohne die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. »Nun laßt uns Rat halten,« sagte Aramis, nachdem sie etwa eine Viertelstunde weit gegangen waren. »Nicht doch,« entgegnete d'Artagnan, »laßt uns entfliehen. Wir sind Cromwell, Mordaunt und dem Meere, also drei Abgründen entronnen, die uns verschlingen wollten; Herrn Mazarin aber werden wir nicht entrinnen.« »Ihr habt recht, d'Artagnan,« versetzte Aramis, »und meine Ansicht wäre sogar, wir sollten uns, zu größerer Sicherheit, trennen.« »Ja, ja, Aramis!« rief d'Artagnan, »trennen wir uns.«