»Madame,« versetzte Rudolf, »der Louvre ist der zweite Palast, wohin diese Nachricht gelangt; es weiß sie noch niemand, und ich habe es dem Herrn Grafen von Guiche geschworen, Ihrer Majestät dieses Schreiben zu übergeben, selbst ehe ich noch meinen Vormund umarmt hätte.«
»Ist Ihr Vormund, so wie Sie, ein Bragelonne?« fragte Lord Winter. »Ich kannte vor Zeiten einen Bragelonne - ist er noch am Leben?«
»Nein, mein Herr, er ist gestorben, und von ihm hat mein Vormund, mit dem er ziemlich nahe verwandt war, wie ich glaube, jenes Gut geerbt, von dem ich den Namen trage.«
»Mein Herr, wie nennt sich Euer Vormund?« fragte die Königin, welche sich einer Teilnahme an diesem schönen jungen Manne nicht enthalten konnte. »Graf de la Fere, Madame,« entgegnete der junge Mann mit einer Verbeugung. Lord Winter machte eine Bewegung der Überraschung; die Königin blickte ihn freudestrahlend an, rief dann aus: »Der Graf de la Fere! Habt Ihr mir nicht diesen Namen angeführt?« Lord Winter konnte gar nicht glauben, was er da gehört hatte, und rief nun gleichfalls aus: »Graf de la Fere! O, mein Herr, sagen Sie mir, ich bitte, ist der Graf de la Fere nicht ein Edelmann, den ich als stolz und tapfer kannte, der Musketier Ludwigs XIII gewesen, und jetzt sieben- bis achtundvierzig Jahre zählen mag?«
»Ja, mein Herr, es ist durchaus so.«
»Und der unter einem angenommenen Namen gedient hat?«
»Unter dem Namen Athos. Ich hörte noch, unlängst, wie ihm sein Freund, Herr d'Artagnan, diesen Namen gab.«
»Ganz richtig, Madame, ganz richtig, Gott sei gelobt!«
»Und befindet er sich in Paris?« fragte der Lord, gegen Rudolf gewendet. Dann, kehrte er sich wieder zur Königin und sprach zu ihr: »Hoffen Sie noch, Madame, hoffen Sie noch, die Vorsehung erklärt sich für uns, denn sie fügte es, daß ich diesen tapferen Edelmann auf so wundersame Art wiederfinde. Und wo wohnt er, mein Herr, ich bitte Sie.«
»Der Graf de la Fere wohnt in Paris und zwar in der Gasse Guenegaud, im Gasthofe >Karl der Große<.«
»Ich danke, mein Herr. Melden Sie doch diesem würdigen Freunde, er wolle zu Hause bleiben, denn ich werde kommen, um ihn zu umarmen.«
»Ich gehorche mit großem Vergnügen, mein Herr, wenn mich Ihre Majestät zu entlassen geruht.«
»Geht, Herr Vicomte von Bragelonne und seid unserer Huld versichert.« Rudolf verneigte sich voll Ehrerbietung vor den beiden Fürstinnen, beurlaubte sich von de Winter und ging hinweg.
Lord Winter und die Königin unterredeten sich noch eine Zeitlang, doch ganz leise, damit sie, die Prinzessin nicht höre. Als sich dann de Winter entfernen wollte, sprach die Königin: »Höret, Mylord, ich bewahrte mir dieses diamantene Kreuz, welches von meiner Mutter kommt, und dieser St.-Michaels-Orden, der von meinem Gemahl ist; sie sind etwa fünfzigtausend Livres im Werte. Ich habe geschworen, daß ich eher des Hungers sterbe, als diese kostbaren Pfänder verkaufen wolle, allein jetzt, wo diese zwei Kleinodien ihm oder seinen Beschützern nützlich sein können, muß ich alles dieser Hoffnung aufopfern. So nehmt sie denn und gebricht es Euch an Geld zu Euren Unternehmungen, Mylord, so verkauft sie ohne alles Bedenken.
Findet Ihr jedoch ein Mittel, sie zu bewahren, so bedenkt, Mylord, daß ich es Euch als den größten mir erwiesenen Dienst anrechne, den nur ein Edelmann einer Königin zu leisten vermag, und daß derjenige, welcher mir am Tage meines Glückes diesen Orden und dieses Kreuz zurückbringt, von mir und meinen Kindern gesegnet sein soll.«
»Madame,« entgegnete de Winter, »Ihre Majestät wird von einem getreuen Mann bedient sein. Ich will mich beeilen, diese zwei Kleinodien an einem sicheren Orte niederzulegen, und würde sie nicht annehmen, wären uns die Mittel unseres früheren Wohlstandes übriggeblieben; allein unsere Guter sind eingezogen, unser bares Geld ist verausgabt, und auch mit uns ist es so weit gekommen, daß wir alles, was wir besitzen, zu Geld machen müssen. In einer Stunde begebe ich mich zu dem Grafen de la Fere, und bis morgen wird Ihre Majestät eine entscheidende Antwort erhalten.« Die Königin reichte Lord Winter die Hand, welcher sie ehrerbietig küßte, dann wandte sie sich zu ihrer Tochter und sagte: »Ihr hattet den Auftrag, Mylord, diesem Kinde etwas von ihrem Vater zu übergeben.« Lord Winter war betroffen, da er nicht wußte, was die Königin sagen wollte. Nun näherte sich die junge Henriette lächelnd und errötend und bot dem Edelmann ihre Stirne, indem sie sagte: »Meldet meinem Vater, daß er, ob er König oder Flüchtling, Sieger oder Besiegter, mächtig oder arm sei, an mir stets die gehorsamste und liebevollste Tochter haben werde.«
»Ich weiß es, Madame,« erwiderte Lord Winter, indem er Henriettens Stirn mit den Lippen berührte.
Oheim und Neffe
Lord Winter ward an der Türe von seinem Pferde und einem Diener erwartet; er ritt nun ganz gedankenvoll seiner Wohnung zu und blickte von Zeit zu Zeit zurück, um die schweigende und dunkle Fassade des Louvre zu betrachten. Hier sah er einen Reiter gleichsam aus der Mauer hervortreten und ihm in einiger Entfernung nachfolgen; er erinnerte sich, daß er, als er das Palais-Royal verließ, einen ähnlichen Schatten bemerkt habe. Auch der Bediente des Lord Winter, der einige Schritte weit hinter ihm ritt, folgte jenem Reiter mit bekümmerten Blicken. »Tony!« rief der Edelmann und gab dem Diener einen Wink, sich zu nähern. »Hier bin ich, gnädiger Herr,« Er ritt an der Seite seines Gebieters. »Hast du jenen Mann bemerkt, der uns nachfolgt?«
»Ja, Mylord.«
»Wer ist es?«
»Das weiß ich nicht, nur folgt er Ew. Gnaden seit dem Palais-Royal, hielt am Louvre an, um Ihr Fortgehen abzuwarten, und setzte sich hier mit Ihnen aufs neue in Bewegung.«
»Das ist irgendein Kundschafter des Kardinals,« dachte de Winter bei sich; »stellen wir uns als sähen wir ihn gar nicht.
Lord Winter stieg vor seinem Gasthofe ab und begab sich in sein Zimmer, mit dem Vornehmen, den Kundschafter beobachten zu lassen, als er aber Hut und Handschuhe auf den Tisch legte, bemerkte er in einem Spiegel, der vor ihm hing, ein Gesicht, das an der Türschwelle erschien. Er wandte sich - es war Mordaunt, der vor ihm stand. Lord Winter erblaßte und blieb bewegungslos stehen; was Mordaunt betrifft, so blieb er kalt, drohend und gleich der Statue des Kommandeurs an der Türe stehen. Es trat zwischen diesen beiden Männern ein Moment eisigen Stillschweigens ein. Dann sprach de Winter: »Mein Herr, ich glaube, Euch begreiflich machen zu müssen, daß mir diese Verfolgung lästig fällt; entfernt Euch also, oder ich will rufen und Euch wie in London fortjagen lassen. Ich bin nicht Euer Oheim, ich kenne Euch gar nicht.«
»Ihr irret, mein Oheim,« entgegnete Mordaunt mit seiner rauhen und höhnischen Stimme, »diesmal werdet Ihr mich nicht fortjagen lassen, wie Ihr es in London getan, Ihr werdet das nicht wagen. Was das Leugnen unserer Verwandtschaft betrifft, so werdet Ihr Euch wohl davor hüten, da ich so manches, was ich vor einem Jahre noch nicht wußte, in Erfahrung gebracht habe.«
»Hm, was geht das mich an, was Ihr erfahren habt?« versetzte de Winter. »O, es geht Euch sehr an, mein Oheim, davon bin ich überzeugt, und Ihr werdet sogleich meiner Meinung beitreten,« fügte er mit einem Lächeln hinzu, das einen Schauder durch die Adern desjenigen wallen ließ, an den es gerichtet war. »Als ich das erstemal in London zu Euch kam, so geschah es, um zu fragen, was aus meinem Vermögen geworden sei; als ich das zweitemal kam, so geschah es, um zu fragen, was denn meinen Namen befleckt habe. Diesmal komme ich zu Euch, um an Euch eine noch viel schrecklichere Frage zu richten, als jene waren, um Euch zuzurufen wie Gott dem ersten Mörder: 'Kain, was hast du aus deinem Bruder Abel gemacht?' -Mylord, was habt Ihr aus Eurer Schwester gemacht, aus Eurer Schwester, die meine Mutter war?« Lord Winter trat zurück unter dem Feuer dieser sprühenden Augen und stammelte: »Aus Eurer Mutter?«