Es schlug Mitternacht. »Führt mich in das Betzimmer der Königin,« sprach er, »meldet ihr, daß ich hier sei und legt dieses Paket mit einem gut geladenen Gewehr auf den Kutschbock des Wagens, der unten an der geheimen Treppe wartet.« Bernouin führte d'Artagnan in das Betzimmer, und hier nahm dieser ganz gedankenvoll Platz. Im Palais-Royal war alles wie sonst. Wie schon erwähnt, hatten sich um zehn Uhr alle Gäste entfernt; jene, welche mit dem Hofe entfliehen sollten, hatten das Losungswort, und jeder von ihnen ward aufgefordert, daß er sich zwischen Mitternacht und ein Uhr im Cours-la-Reine einfinde. Um zehn Uhr begab sich die Königin Anna zum König; man hatte soeben den Bruder des Königs (Monsieur) zu Bette gebracht, und der junge Ludwig, der zuletzt aufgeblieben war, unterhielt sich damit, daß er bleierne Soldaten in Schlachtordnung aufstellte, was ihm ein großes Vergnügen machte. Zwei Ehrenknaben spielten mit ihm. »Laporte,« sprach die Königin, »es dürfte Zeit sein, Seine Majestät zur Ruhe zu bringen.« Der König wollte noch aufbleiben, da er, wie er sagte, noch nicht Lust hatte, zu schlafen; allein die Königin bestand darauf. »Mußt du denn nicht morgen früh um sechs Uhr in das Bad nach Constans gehen? Ich glaube, daß du es selber gewünscht hast.«
»Sie haben recht, Madame.« entgegnete der König, »und wenn Sie so gütig sind, mich zu umarmen, will ich mich in mein Zimmer zurückziehen, Laporte, gebt Herrn Chevalier de Coislin den Leuchter.« Die Königin drückte ihre Lippen auf die weiße und glatte Stirn, die das erlauchte Kind mit einem Ernste darbot, welcher schon der Hofetikette glich. »Schlafe bald ein, Ludwig,« sprach die Königin, »denn man wird dich frühzeitig aufwecken.«
»Ich will mein möglichstes tun, Ihnen zu gehorchen, Madame,« versetzte der junge Ludwig, »doch habe ich ganz und gar keine Lust, zu schlafen.«
»Laporte,« sprach die Königin leise, «holt Seiner Majestät ein Buch, das recht langweilig ist, aber zieht Euch nicht aus.« Ludwig verlies nun das Zimmer, begleitet von dem Chevalier de Coislin, der den Leuchter trug. Den andern Ehrenknaben brachte man nach seiner Wohnung zurück. Die Königin erteilte nunmehr ihre Befehle, sie sprach von einem Schmause, welchen ihr für übermorgen der Marquis von Villequier angeboten habe, nannte die Personen, denen sie die Ehre gönnte, daran teilzunehmen, kündigte für den folgenden Morgen noch einen Besuch in Val-de-Grace an, wo sie ihre Andacht verrichten wollte, und gab ihrem ersten Kammerdiener Beringhen Befehl, sie dahin zu begleiten. Als das Nachtmahl der Damen beendet war, gab die Königin vor, das sie sehr ermüdet sei, und ging in ihr Schlafgemach. Frau von Motteville, welche an diesem Abend persönlich den Dienst hatte, folgte ihr. Die Königin begab sich zu Bette, sprach noch ein Weilchen huldreich mit ihr und entließ sie dann: In diesem Momente war es, wo d'Artagnan in der Kutsche des Koadjutors in das Palais-Royal fuhr. Einen Augenblick darauf fuhren die Ehrendamen in ihren Kutschen fort, und das Gittertor ward hinter ihnen geschlossen. Es schlug Mitternacht. Fünf Minuten darauf pochte Vernouin an das Schlafgemach der Königin, wohin er durch den geheimen Gang gegangen war. Die Königin Anna öffnete selber. Sie war schon angekleidet, sie hatte nämlich ihre Strümpfe wieder angezogen und sich in einen langen Mantel gehüllt. »Seid Ihr es, Bernouin,« fragte sie; »ist Herr d'Artagnan hier?«
»Ja, Madame, in Ihrem Betzimmer; er wartet, daß Ihre Majestät bereit sei.
»Ich bin's. Sagt nun Laporte, daß er den König wecke und ankleide; von dort geht dann zu dem Marschall von Villeroy und meldet ihm meine Abreise.« Vernouin verneigte und entfernte sich. Die Königin ging in ihr Betzimmer, das von einer Lampe aus venezianischem Glase erleuchtet wurde. Sie sah d'Artagnan, der ihrer harrte. »Ihr seid es,« sprach sie zu ihm.
»Ja, Madame.« «Seid Ihr bereit?«
»Ich bin es.«
»Und der Herr
Kardinal?«
»Er hat Paris ohne einen Unfall verlassen, und erwartet Ihre Majestät am Cours-la-Reine«
»In welchem Wagen reisen wir?«
»Ich trug schon Sorge für alles; Ihre Majestät erwartet unten eine Kutsche.«
»Wir wollen zu dem König gehen.« Der junge Ludwig war mit Ausnahme der Schuhe und des Oberrocks bereits angekleidet; er ließ ganz verwundert mit sich machen, was man wollte, und überschüttete Laporte mit Fragen, der ihm blaß zur Antwort gab: »Sire, es geschieht auf Befehl der Königin.« Die Königin trat ein, und d'Artagnan blieb an der Schwelle stehen. Als der Knabe seine Mutter sah, entwand er sich den Händen Laportes und sprang ihr entgegen. Die Königin winkte d'Artagnan, sich zu nähern. D'Artagnan gehorchte. »Mein Sohn,« sprach die Königin Anna, indem sie ihm den ruhig und mit entblößtem Kopfe dastehenden Musketier zeigte, »das ist Herr d'Artagnan, der so tapfer ist wie einer von jenen alten Rittern, deren Geschichte du dir so gern von meinen Kammerfrauen erzählen läßt. Erinnere dich genau seines Namens, und sieh ihn gut an, damit du sein Gesicht nicht vergißt, denn er wird uns heute einen wichtigen Dienst leisten.« Der junge König sah den Offizier mit seinen großen stolzen Augen an und wiederholte: »Herr d'Artagnan.«
»Ganz richtig, mein Sohn.« Der junge König erhob langsam seine kleine Hand und reichte sie dem Musketier; dieser ließ sich auf ein Knie nieder, um sie zu küssen.»Herr d'Artagnan,« wiederholte Ludwig: »gut, Madame.«
D'Artagnan ging hinab; die Kutsche stand auf ihrem Platze, der Musketier saß auf dem Bocke. D'Artagnan nahm das Paket, das er durch Bernouin auf den Bock hatte legen lassen. Wie man noch wissen wird, war das der Hut und Mantel des Kutschers von Herrn von Gondy. Er hing sich den Mantel um die Schultern und setzte den Hut auf den Kopf. Der Musketier stieg vom Bocke herab. »Mein Herr,« sagte d'Artagnan zu ihm, »sehet Euren Kameraden, der den Kutscher bewacht hat, wieder in Freiheit. Dann steigt zu Pferde, reitet in die Straße Tiquetonne zum Wirtshause de la Chevrette, holet dort mein Pferd und das des Herrn du Ballon, und sattelt und zäumt sie auf kriegsmäßige Weise; sodann verlasset Paris, die Pferde am Zügel mitführend, und verfügt Euch nach dem Cours-la-Reine. Findet Ihr daselbst niemanden mehr, so reitet weiter bis Saint-Germain - im Dienste des Königs.« Der Musketier erhob die Hand bis an den Hut und ging fort, um den erhaltenen Befehlen nachzukommen. D'Artagnan stieg auf den Bock. Er hatte eine Pistole in seinem Gürtel, ein Gewehr zu den Füßen und sein entblößtes Schwert hinter sich. Die Königin kam, und hinter ihr der König und sein Bruder, der Herzog Anjou. »Das ist ja die Kutsche des Herrn Koadjutors!« rief sie und wich einen Schritt zurück.
»Ja, Madame, doch steigen Sie frisch hinein, ich will Sie fahren.« Die Königin stieg mit einem Ausruf der Überraschung in den Wagen. Nach ihr stiegen der König und ein Bruder ein und setzten sich an ihre Seite, links und rechts.
»Kommt, Laporte!« rief die Königin.
»Wie doch, Madame, mit Ihrer Majestät in die nämliche Kutsche?«
»Heute handelt es sich nicht um königliche Hofsitte, sondern um das Heil des Königs. Steigt also ein, Laporte!« Laporte leistete Folge.
»Lasset die Vorhänge nieder,« rief d'Artagnan.
»Wird aber das nicht Mißtrauen erwecken, mein Herr?« fragte die Königin.
»Geruhe Ihre Majestät unbekümmert zu sein,« versetzte d'Artagnan, »ich habe meine Antwort schon in Bereitschaft.« Man ließ die Vorhänge herab und sprengte im Galopp durch die Straße Richelieu. Als man bei dem Tore ankam, schritt der Kommandant mit einem Dutzend Mann und einer Laterne in der Hand herbei. D'Artagnan bedeutete ihm, näher zu kommen, und sagte zum Unteroffizier: »Erkennet Ihr diese Kutsche?«
»Nein.« entgegnete dieser.
»So beseht Euch das Wappen.« Der Unteroffizier näherte seine Lampe dem Kutschenschlage und sagte:
»Es ist das des Herrn Koadjutors.«