»Ja, Sire,« antwortete der Kommissar des Parlaments. Sodann entfernte er sich. Als Aramis wieder zu sich kam, preßte er sich die Nägel in das Fleisch und erhob ein tiefes Stöhnen. »O, gnädiger Herr,« rief er, indem er Juxons Hände erfaßte, »wo ist Gott? ach, wo ist Gott?«
»Mein Sohn,« antwortete ihm der Bischof mit Festigkeit, »Ihr seht ihn nicht, weil ihn die irdischen Leidenschaften verbergen.«
»Mein Sohn,« sprach der König zu Aramis. »sei nicht trostlos. Du fragst, was Gott tut? Gott sieht auf deine treue Hingebung und auf mein Märtyrertum, und glaube mir, beiden wird ihr Lohn zuteil; somit halte dich über das, was geschieht, an die Menschen und nicht an Gott. Die Menschen sind es, welche mich zum Tode führen, die Menschen sind es, welche dir die Tränen erpressen.«
»Ja, Sire,« antwortete Aramis, «ja, Sie haben recht, ich muß die Schuld den Menschen zuschreiben und mich deshalb an sie halten.«
»Seht Euch, Juxon,« sprach der König, indem er niederkniete, »Ihr müßt mich noch anhören und ich muß doch beichten. Bleibt, o Herr,« sagte er zu Aramis, der sich zurückziehen wollte; »bleib, Parry; ich habe nichts zu sagen, was ich nicht in Gegenwart aller Welt sagen könnte, ich beklage nur, daß mich nicht alle hören können wie Ihr.« Juxon setzte sich, der König kniete vor ihm wie der demutvollste Gläubige, und fing an sein Bekenntnis abzulegen.
Remember
Als der König sein Beichtbekenntnis abgelegt und das Abendmahl empfangen hatte, verlangte er seine Kinder zu sehen. Es schlug zehn Uhr; somit war es keine große Verspätung, wie er es gesagt hatte. Inzwischen war das Volk schon bereit; es wußte, daß um zehn Uhr die Hinrichtung festgesetzt sei, und drängte sich in die an den Palast anstoßenden Straßen, und der König begann, dieses ferne Getöse zu unterscheiden, welches die Volksmenge und das Meer verursachen, wenn die eine durch ihre Leidenschaften, das andere durch Stürme in Bewegung gesetzt wird. Die Kinder des Königs kamen an; fürs erste die Prinzessin Charlotte, sodann der Herzog von Glocester; jene ein kleines, schönes, blondes Mädchen mit Tränen in den Augen; dieser ein junger Knabe von acht bis neun Jahren, dessen trockenes Auge und verächtlich aufgeworfene Lippe den ankeimenden Stolz verrieten. Der Knabe hatte die ganze Nacht hindurch geweint, vor all diesen Menschen aber weinte er nicht mehr. Karl fühlte bei dem Anblick dieser zwei Kinder, die er schon zwei Jahre lang nicht gesehen, und jetzt nur im Augenblicke des Sterbens wiedersah, sein Herz weich werden. Eine Träne trat ihm ins Auge, er wandte sich ab, um sie zu trocknen, da er stark vor denen sein wollte, welchen er ein so drückendes Erbteil des Schmerzes und des Unglückes hinterließ.
Er sprach zuvörderst mit dem jungen Mädchen, zog es an sich, und empfahl ihm Frömmigkeit, Ergebenheit und kindliche Liebe; sodann nahm er den jungen Herzog von Glocester, und setzte ihn auf seinen Schoß, damit er ihn zugleich an sein Herz drücken und im Gesichte liebkosen konnte. »Mein Sohn,« sprach er zu ihm, »du hast in den Straßen und Vorzimmern viele Menschen gesehen, als du hierherkamst, diese Menschen stehen im Begriff, deinem Vater den Kopf abzuschlagen, das vergiß du nie. Sie werden dich vielleicht eines Tages, wenn sie dich bei sich sehen und in ihrer Gewalt haben, mit Ausschließung des Prinzen von Wallis oder des Herzogs von York, deiner älteren Brüder, wovon der eine in Frankreich, der andere ich weiß nicht wo ist, zum Könige erheben wollen; allein du bist nicht der König, mein Sohn, und kannst es nur nach ihrem Tode werden. Schwöre mir also, dir die Krone nicht früher auf das Haupt setzen zu lassen, als bis du rechtmäßige Ansprüche darauf hast; denn, höre mich wohl, mein Sohn, wenn du das tätest, so würden sie dir eines Tages Kopf und Krone mitsammen abschlagen, und an diesem Tage könntest du nicht so ruhig und ohne Gewissensbisse sterben, wie ich sterbe. Schwöre, mein Sohn.« Der Knabe legte seine kleine Hand in die Rechte seines Vaters und sprach: »Sire, ich schwöre Ew. Majestät — « Karl unterbrach ihn und sagte: »Heinrich, nenne mich deinen Vater.«
»Mein Vater,« begann der Knabe wieder, »ich schwöre Euch, daß sie mich eher töten, als zum König machen sollen.«
»Gut, mein Sohn,« versetzte Karl. »Jetzt umarme mich, und auch du, Charlotte, und vergeht meiner nicht.«
»O, nein, nie, nie!« riefen die zwei Kinder und schlangen ihre Arme um den Hals des Königs. »Lebt wohl,« sprach Karl, »lebt wohl, meine Kinder! Führet sie fort, Juxon, ihre Tränen würden mir den Mut zum Sterben benehmen.« Juxon nahm die armen Kinder von den Armen ihres Vaters, und übergab sie denen wieder, welche sie hergebracht hatten. Hinter ihnen öffneten sich die Türen, wo jedermann eintreten konnte. Als sich der König mitten unter Wachen und Neugierigen, die in das Zimmer drangen, allein sah, erinnerte er sich, daß der Graf de la Fere nahe bei ihm unter dem Fußboden des Zimmers sei, und, indem er ihn nicht sehen konnte, vielleicht immer noch hoffte. Er bebte, das leiseste Geräusch möchte Athos ein Signal scheinen, und so könnte er sich dadurch, daß er seine Arbeit fortsetzte, selber verraten. Er verhielt sich also mit Anstrengung ganz unbeweglich, und forderte durch sein Beispiel alle Anwesenden zur Ruhe auf. Der König täuschte sich nicht, Athos befand sich wirklich unter seinen Füßen, er horchte und verzweifelte, das Signal zu vernehmen; bisweilen begann er in seiner Ungeduld aufs neue Steine auszubrechen, doch in der Furcht, gehört zu werden, unterließ er es bald wieder. Diese schauervolle Untätigkeit währte zwei Stunden lang. Im königlichen Zimmer herrschte Todesstille. Jetzt entschloß sich Athos, nach der Ursache dieser düstern, lautlosen Ruhe zu forschen, die nur das endlose Geräusch der Menge störte. Er lüftete den Vorhang, der die Öffnung der Kluft verhüllte, und stieg auf das erste Stockwerk des Schafotts hinab, über seinem Scheitel, kaum vier Zoll entfernt, war der Fußboden, der mit dem Balkon in gleicher Höhe stand und das Schafott bildete. Dieses Geräusch, welches er bis jetzt nur dumpf gehört hatte, und das jetzt laut und bedrohlich bis zu ihm drang, ließ ihn voll Schrecken aufspringen. Er schritt bis an den Rand des Schafotts, schlug das schwarze Tuch in der Höhe seiner Augen zurück und sah Reiter um das entsetzliche Blutgerüst aufgestellt, jenseits der Reiter eine Abteilung Hellebardiere, hinter diesen Musketiere und hinter den Musketieren die ersten Reihen des Volkes, welches gleich dem ungestümen Meere brauste und brüllte. »Was ist denn vorgegangen?« fragte sich Athos, noch mehr zitternd als das Tuch, dessen Falten er zerkrümmte. »Das Volk drängt heran, die Soldaten stehen unter den Waffen, und unter den Zuschauern, die alle ihre Augen auf das Fenster heften, bemerke ich d'Artagnan. Was erwartet er? Wohin blickt er? Großer Gott, haben sie etwa den Scharfrichter entwischen lassen?«
Auf einmal wirbelten die Trommeln dumpf und traurig auf dem Platze; ein Geräusch von schweren, anhaltenden Tritten ertönte über seinem Scheitel. Es kam ihm vor, als zöge etwas gleich einer endlosen Prozession über die Fußböden von White-Hall; bald danach hörte er den Fußboden des Schafotts selber knarren. Er warf einen letzten Blick nach dem Platze hin, und die Haltung der Zuschauer sagte ihm das, was ihn eine letzte Hoffnung zu erraten abhielt, die noch in seines Herzens Grunde geblieben war. Das Gemurmel auf dem Platze war gänzlich verstummt. Die Augen aller waren nach dem Fenster von White-Hall gerichtet; die offenen Lippen und der zurückgehaltene Odem zeigten die Erwartung irgendeines schauderhaften Schauspiels an. Jenes Geräusch von Tritten, das Athos von der Stelle aus, die er vordem unter dem Zimmerboden des Königs eingenommen hatte, über seinem Scheitel gehört, erneuerte sich auf dem Schafott, das sich unter der Last dergestalt bog, daß die Bretter beinahe den Kopf des unglücklichen Edelmanns berührten. Es waren da augenfällig zwei Reihen von Soldaten, die ihren Platz einnahmen. In demselben Momente sprach eine edle Stimme, die dem Edelmann wohlbekannt war, über seinem Haupte die folgenden Worte: »Herr Oberst, ich wünsche zu dem Volke zu sprechen.« Athos schauderte vom Kopfe bis zu den Füßen, es war in der Tat der König, der zu dem Volke sprach. Nachdem Karl einige Tropfen Wein getrunken und Brot genossen hatte, und müde war, den Tod zu erwarten, hatte er sich auf einmal wirklich entschlossen, demselben entgegenzugehen, und das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Man hatte nun die zwei Flügel des auf den Platz gehenden Fensters geöffnet, und aus dem Hintergrunde des großen Zimmers hatte das Volk fürs erste einen maskierten Mann herankommen sehen, welchen es an dem Beile, das er in der Hand trug, für den Scharfrichter erkannte. Dieser Mann trat zu dem Blocke hin und legte sein Beil auf denselben. Das war das erste Geräusch, welches Athos gehört hatte. Hinter diesem Manne kam sodann zweifelsohne blaß, aber ruhig und festen Schrittes Karl Stuart zwischen zwei Priestern, gefolgt von höheren Offizieren, welche die Hinrichtung zu leiten hatten, und von zwei Reihen Hellebardieren begleitet, die sich an beiden Seiten des Schafotts aufstellten.