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«Mehr weiß ich nicht«, beendete Carl seine Erzählung.»Bis heute nicht. Die Unschuld ist weniger eine Frage der Moral eines Lebens als der Dauer eines solchen. Je mehr Jahre sich häufen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, die Unschuld zu behalten. Lange genug habe ich geglaubt, ein Mörder zu sein, lange genug, um mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, und lange genug, um mich mit diesem Gedanken auszusöhnen — was ja nichts anderes als ein geschwollenes Wort für ›sich daran gewöhnen‹ ist. Amerika hat mir dabei geholfen. New York liegt weit weg von Moskau, Mitleid nimmt mit der Entfernung ab, das Gefühl der Schuld nicht weniger. Pascal hatte recht: Ein Meridian entscheidet über Gerechtigkeit und Wahrheit. Was auch immer damals am Vodootvodnyi-Kanal geschehen war, ich wollte es gar nicht so genau wissen. Ich war wieder aufgenommen in den Club der einigermaßen Zivilisierten. Natürlich war ich erleichtert. Leopardi, der fürwahr ein kranker Hund war, sagte, man spüre sogar Schmerz, wenn ein peinvoller Zustand aufhört, eben weil man sich an ihn gewöhnt hat. Und ich mußte mich erst wieder an den Gedanken gewöhnen, kein Mörder zu sein … — Nun aber, Sebastian, wollen wir zu Bett gehen.«

Siebtes Kapitel

1

Abraham Fields war ein Begeisterter. — Er wurde 1911 in New York City geboren, dort wuchs er auf, dort starb er. Kleine Hände hatte er, blasse, weiche Hände. Aber nicht ungeschickte Hände. Er bastelte gern. Was er bastelte, war zierlich, Dinge für den Schreibtisch oder für eine Frisierkommode, Schmuckkästchen zum Beispiel, nicht größer als eine Zigarrenkiste, manche so klein wie eine Zigarettenschachtel. Aus dem weißen Blech von Konservendosen bog er sie zurecht, verlötete sie, verzierte sie mit Einritzungen und Glassplitterchen, roten, grünen, weißen, die er einfaßte wie Rubine und Saphire und Diamanten. Innen legte er die Kästchen mit Stoffetzen aus, die färbte er mit verdünnter Tinte oder Tee und unterfütterte sie mit Wollflaum. Siebzehn Stück. Er hat sie alle nacheinander seiner Schwester geschickt. Die war älter als er, lebte in Chicago; sie hatte ihren Mann bei der Invasion in der Normandie verloren. Die Post der amerikanischen Armee sorgte für prompte Zustellung. Fünfundzwanzig Jahre später, nach dem Tod seiner Schwester, nahm er die Kästchen wieder zu sich. Als ich Abraham Fields im Herbst 1976 in New York besuchte, zeigte er sie mir. Sie standen auf seinem Steinway-Stutzflügel aufgereiht, eines neben dem anderen entlang der Kante in exakt gleichem Abstand. Ich beugte mich zu ihnen nieder, sie zu berühren getraute ich mich nicht. Mr. Fields reichte mir eine Lupe, und ich betrachtete die winzigen eingeritzten Ornamente.»Mit der Spitze eines Zirkels«, erklärte er mir.»Einer unserer Offiziere hatte auf der Straße in Nürnberg mit einem deutschen Oberstudienrat eine Dose Corned beef gegen einen Zirkel getauscht, und ich redete so lange auf den Offizier ein, bis ihm klar wurde, daß er ja gar keinen Zirkel brauchte, und er ihn mir schenkte. «Hinter den Kästchen war eine Galerie kleiner Stehrahmen arrangiert. Schön wäre es, sagte Mr. Fields, wenn zu jedem Kästchen eine Person gehörte, aber leider gebe es nicht siebzehn Menschen, die für sein Leben wichtig seien oder wichtig gewesen seien. Deshalb dürften manche in mehreren Kästchen wohnen. Auf drei Bildern erkannte ich Carl — auf einem, ich schätzte, dreißigjährig, Unkle Sam mimend, schiefes Grinsen, Zylinder auf dem Kopf, den Zeigefinger auf den Fotografen gerichtet; das andere war ein Schnappschuß vor einem blühenden Baum im Central Park, Carl in einem Tweedmantel, an dem, deutlich zu erkennen, der mittlere Knopf fehlte; das dritte, aufgenommen irgendwann nach dem Krieg oder während der letzten Monate des Krieges, wie Mr. Fields kommentierte, zeigte Carl zusammen mit Margarida auf der Fähre nach Staten Island, im Hintergrund die Freiheitsstatue. — Und dann stand hier auch ein Bild von Edith Stein. Das Bild kannte ich von Carls Schreibtisch. (Es hängt auch in der Zelle meiner Mutter, wie sie mir erzählte.) Es zeigt sie in der Tracht ihres Ordens. Es ist das bekannteste Bild von ihr, ihre Ikone. Sie hatte es anfertigen lassen als Paßfoto, kurz bevor sie nach Holland geflohen war. Carl hatte Abe oft von Edith Stein erzählt. Abe war tief beeindruckt gewesen, immer wieder hatte er diese Geschichten hören wollen, die ihn, wie er sagte, in die Zauberwelt des romantischen Deutschland trugen. Die darin auftretenden Personen seien ihm ans Herz gewachsen — die eifersüchtige Tante Kuni, die wilde Tante Franzi, der tapfere kleine Carl Jacob und vor allem der Engel. In seinem Kopf hätten sie zusammen mit der schönen Loreley, mit Dornröschen, dem Sandmann, dem Peter Schlemihl, dem gestiefelten Kater und all den anderen sozusagen seine deutsche Familie gebildet. Nach dem Krieg, in Nürnberg, habe er erfahren, daß der Engel gar nicht Mitglied im romantischen Club des» ewigen Sonntages im Gemüte «gewesen, sondern daß er in der deutschen Wirklichkeit gelebt hatte und in Auschwitz ermordet worden war. Als ihm Carl Anfang der sechziger Jahre am Telefon berichtet habe, daß ein Verfahren zur Heiligsprechung von Edith Stein vorbereitet werde, habe er ihn gebeten, ihm ein Bild von ihr zu schicken.»Manchmal schaue ich sie an und bete ein wenig zu ihr. Das erquickt mich. Am liebsten bete ich den Rosenkranz auf deutsch. Das ist eine Spinnerei, ohne Zweifel. Aber es gilt, denke ich. Wenn eine deutsche Jüdin aus einer heute polnischen Stadt als katholische Märtyrerin heiliggesprochen werden soll, darf auch ein atheistischer amerikanischer Jude den deutschen Rosenkranz beten. Wer wollte dagegen ein Verfahren anstreben?«

Abraham Fields hatte deutsche Vorfahren (die hießen Felder). Deutsche Kultur und deutsche Geschichte interessierten ihn seit seiner Jugend. Neben dem Psychologiestudium an der Columbia Universität baute er die Kenntnisse unserer Sprache aus, an den Abenden im Studentenheim las er Effi Briest, die Duineser Elegien und die Traumdeutung. Zu den Freunden seiner Studienzeit zählte jenes jüdische Emigrantenehepaar aus Berlin, das später nach Kinnelon in New Jersey gezogen war. Als sie noch an der East Side in einer kleinen Wohnung in einem der öden Klinkerblocks wohnten, hatte er die beiden regelmäßig besucht; es milderte ihr Heimweh, wenn sie sich mit ihm in ihrer Muttersprache unterhielten, und er verfeinerte dabei seine Artikulation.

Als die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eintraten, meldete er sich bei der Army und wurde als Dolmetscher bei Verhören gefangener deutscher Offiziere eingesetzt. Er beherrschte unsere Sprache so gut, daß er fürchtete, er könnte bei seinen eigenen Leuten Mißtrauen erregen, und unterlegte ihr deshalb absichtlich einen amerikanischen Akzent. Nach dem Zusammenbruch des Nazireichs wurde er vom IMT, dem Internationalen Militärtribunal, als Gerichtspsychologe zum Prozeß gegen Göring, Heß, Streicher, Schirach, Jodl, Dönitz und die anderen nach Nürnberg gerufen — als psychologischer» Begutachter«. Vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 besuchte er an allen Verhandlungstagen und meistens auch an den verhandlungsfreien Sonntagen die Angeklagten in ihren Zellen oder saß bei ihnen in den Speisesälen. Er hörte sich ihre Kommentare an, ihre Lügen, ihre Prahlereien, ihre panischen Rechtfertigungen, ihre durchsichtigen Schmeicheleien, blickte ihnen stoisch auf die Stirn, wenn sie ihm drohten, ließ sich von ihnen die Hand halten, wenn sie weinen wollten. Er befragte sie nach ihren Ansichten über den Prozeßverlauf, über die anderen Angeklagten, die Richter, die Anwälte, die Ankläger. Legte ihnen IQ-Fragebögen vor, bat sie, ihre Kindheitserinnerungen in kleine Novellen zu fassen. Sprach mit ihnen über Gott und die Welt. Seine eigene Zeit verbrachte er möglichst allein. Er kaufte einem ausgebombten angeblichen Installateur — auch dieser hatte auf der Straße seine Siebensachen vor sich ausgebreitet — einen Lötkolben ab und eine Rolle Lötzinn dazu, sammelte Blechdosen und Glassplitter und bastelte seine Schmuckkästchen. Journalisten und Berichterstatter aus allen Ländern der Welt waren hinter ihm her, wollten von ihm» Persönliches«über die Angeklagten erfahren. Sie hofierten ihn, luden ihn schließlich zu einer» internationalen Pressekonferenz «in das Schloß der Bleistiftfirma Faber-Castell ein, das von den Besatzungsbehörden als Unterkunft für die Presseleute hergerichtet worden war. Sie improvisierten ein Buffet mit französischen Pasteten, russischem Wodka, englischem Kuchen, amerikanischen Zigaretten und kubanischen Zigarren — letztere spendiert von Ernest Hemingway. Abraham rührte nichts an. Er beantwortete ihre Fragen, aber nur, soweit sie sich auf den Prozeßverlauf und die ohnehin bekannten biographischen Daten der Angeklagten bezogen. Über» Persönliches «sprach er nicht. Die Damen und Herren waren ratlos, ärgerten sich, glaubten, Abe wolle sie an der Nase herumführen, wolle Geld schinden. Er verbeugte sich und rannte davon. Der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg nahm ihn an einem der folgenden Tage beiseite, entschuldigte sich für seine Kollegen, redete ihm aber doch ins Gewissen: Abe, in seiner Position als Prozeßpsychologe, sei vor der Weltgeschichte verpflichtet mitzuhelfen, daß das Seelenleben dieser Bestien publiziert werde. Und wurde endlich konkret: Abe solle ihn als seinen Assistenten ausgeben und ihn bei seinen Besuchen in den Zellen der Angeklagten mitnehmen. Abe schüttelte den Kopf. Dem amerikanischen Schriftsteller John Dos Passos, der für das Life Magazin über den Prozeß berichtete, gelang es, Abe für eine kurze Zeit so etwas wie Freundschaft vorzugaukeln, er verlor aber rasch die Geduld und hielt ihm ein Bündel Dollars vors Gesicht, und Abraham, tief enttäuscht, sagte auf deutsch:»Um Gottes willen!«Die Presseagenturen RCA Mackey, Press Wireless und Tass versuchten gemeinsam Druck auf ihn auszuüben, man werde bei der amerikanischen Militärregierung in Bayern bewirken, daß er seines Postens enthoben werde, wenn er sich nicht kooperationsbereit zeige. Abraham blieb standhaft. Er erlaubte niemandem, sich als seinen Assistenten auszugeben und ihn zu den Angeklagten zu begleiten — mit einer Ausnahme … Über jedes Gespräch, das er mit Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Ernst Kaltenbrunner und den anderen Naziverbrechern führte, verfaßte Abraham ein gewissenhaftes Protokoll. Wirklich viel Geld sei ihm nach dem Prozeß für diesen Packen Papier geboten worden, erzählte Carl. Abraham Fields aber schenkte seine Aufzeichnungen verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Instituten und Forschungsstätten. (Das besonders umfangreiche Dossier über Arthur Seyß-Inquart, der als Reichskommissar für die besetzten Niederlande für die Deportation von Edith Stein nach Auschwitz verantwortlich war, überließ er dem Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie in Amsterdam. Es hätte neben den Gesprächen, die ich mit Abe geführt hatte, meiner Dissertation als Grundlage dienen sollen — so jedenfalls Carls Plan für meinen» exzellenten akademischen Start«.) Ein Kollege von ihm, der ebenfalls während des Prozesses in Nürnberg tätig war und der später ein berühmtes Buch darüber schrieb, nannte ihn in einem Interview einmal den» Nürnberger Thukydides«— ein Titel, auf den Abraham sehr stolz war und über den er sich bis zu seinem Lebensende freute.