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Die Autoren der Fiktionen des Zwischenspiels haben nicht nur andere Vorstellungen und Gefühle als ich, sondern greifen auch auf einen anderen Stil und eine andere Kompositionstechnik zurück. Hier ist jede einzelne Person nicht nur unterschiedlich erdacht, sondern auch vollkommen unterschiedlich beschaffen. Daher ist in den Fiktionen des Zwischenspiels auch der Vers bestimmend. Sich in Prosa zu andern[111]   ist weit schwerer.

D.  »Metaphysische Gedanken aus dem Buch der Unruhe« [?]

Die einzige Wirklichkeit sind für mich meine Wahrnehmungen. Ich bin eine Wahrnehmung von mir. Dennoch bin ich mir nicht einmal meiner eigenen Existenz gewiß. Gewiß kann ich mir nur jener Wahrnehmungen sein, die ich die meinen nenne.

Die Wahrheit? Ist sie etwas Äußerliches? Ich kann mir ihrer nicht gewiß sein, da sie keine Wahrnehmung von mir ist, nur meiner Wahrnehmungen kann ich mir gewiß sein. Eine Wahrnehmung von mir? Wovon?

Den Traum suchen heißt daher die Wahrheit suchen, denn die einzige Wahrheit für mich bin ich selber. Mich so weit wie möglich von anderen fernhalten heißt die Wahrheit respektieren.

Metaphysik ist nichts anderes als die Suche nach Wahrheit – Wahrheit im Sinne der absoluten Wahrheit. Wenn aber die Wahrheit, was auch immer sie sei – und angenommen, sie ist etwas –, existiert, dann entweder innerhalb oder außerhalb meiner Wahrnehmungen oder sowohl innerhalb als auch außerhalb. Wenn sie außerhalb meiner Wahrnehmungen existiert, ist sie etwas, dessen ich mir nie sicher sein kann, und folglich existiert sie nicht für mich, ist für mich nicht nur das Gegenteil der Gewißheit, denn ich bin mir nur meiner Wahrnehmungen gewiß, sondern auch das Gegenteil von Sein, denn das einzige, das für mich existiert, sind meine Wahrnehmungen. So daß, wenn sie denn außerhalb meiner Wahrnehmungen existiert, die Wahrheit für mich der Ungewißheit und dem Nicht-Sein gleichkommt, nicht existiert und daher nicht die Wahrheit ist. Doch stellen wir einmal die absurde Hypothese auf, meine Wahrnehmungen seien ein Irrtum und ein Nicht-Sein (was absurd ist, da es sie mit Gewißheit gibt) – in diesem Falle ist die Wahrheit das Sein und existiert ganz und gar außerhalb meiner Wahrnehmungen. Die Vorstellung von Wahrheit aber ist eine Vorstellung von mir und existiert daher innerhalb meiner Wahrnehmungen: infolgedessen existiert die Wahrheit als abstrakte und außerhalb von mir befindliche Wahrheit in mir – ist somit ein Widerspruch und ein Irrtum.

Oder aber wir nehmen an, die Wahrheit existiert innerhalb meiner Wahrnehmungen. In diesem Falle wiederum ist sie entweder die Summe aller Wahrheiten, ein Teil von ihnen oder gar eine Wahrheit für sich. Wenn sie eine meiner Wahrheiten ist, worin unterscheidet sie sich dann von den anderen? Wenn sie eine Wahrheit für sich ist, unterscheidet sie sich nicht wesentlich von den anderen, müßte sich aber, damit sie sich unterschiede, wesentlich von ihnen unterscheiden. Wenn sie jedoch keine Wahrnehmung ist, ist sie keine Wahrnehmung. – Wenn sie aber ein Teil meiner Wahrnehmungen ist, welcher Teil ist sie dann? Die Wahrnehmungen haben zwei Seiten, einerseits werden sie empfunden, andererseits gelten sie als empfundene Dinge, zum einen gehen sie auf mich zurück, zum anderen auf »Dinge«. Dies ist eine jener Seiten, die die Wahrheit, wenn sie denn Teil meiner Wahrnehmungen ist, sein muß. (Wenn sie auf die eine oder andere Art mehrere Wahrnehmungen ist, die sich zu einer einzigen Wahrnehmung zusammenschließen, gerät sie in die Fänge des Denkvermögens, das zu der vorherigen Annahme führt.) Wenn sie eine der beiden Seiten darstellt, dann welche? Die »subjektive«? Diese subjektive Seite aber stellt sich mir in zweierlei Form dar, entweder als meine eine »Individualität« oder als eine »meiner« multiplen Individualitäten. Im ersten Fall ist sie eine meiner Wahrnehmungen, nicht anders als andere, und ist bereits durch das vorausgegangene Argument widerlegt. Im zweiten Fall ist diese Wahrheit multipel und vielfältig, ist mehrere Wahrheiten – was der Vorstellung von Wahrheit widerspricht, was auch immer sie wert sein mag. Ist es also die objektive Seite? Das gleiche Argument wird hier angeführt, denn entweder handelt es sich um den Zusammenschluß dieser Wahrnehmungen zu einer Vorstellung von einer äußeren Welt – und diese Vorstellung ist entweder nichts oder aber eine meiner Wahrnehmungen, und sofern sie eine Wahrnehmung ist, ist diese Annahme somit bereits widerlegt; oder aber diese Seite gehört zu einer multiplen äußeren Welt, dies reduziert sie auf meine Wahrnehmungen, und in diesem Fall ist die Vielzahl der Formen das Wesentliche an der Vorstellung von Wahrheit.

Es bleibt zu analysieren, ob die Wahrheit die Gesamtheit meiner Wahrnehmungen ist. Diese Wahrnehmungen können entweder als eine oder als viele angesehen werden. Im ersten Fall greifen wir noch einmal auf die bereits verworfene Annahme zurück. Im zweiten verschwindet die Wahrheit als Vorstellung, da sie sich mit der Gesamtheit meiner Wahrnehmungen verbindet. Um aber die Gesamtheit meiner Wahrnehmungen sein und als die meinen verstanden werden zu können, verzettelt sich die nackte Wahrheit und verschwindet. Denn entweder sie gründet sich auf die Vorstellung von Gesamtheit, die eine Vorstellung (oder Wahrnehmung) von uns ist, oder aber sie stützt sich auf nichts. Dennoch beweist nichts die Identität der Wahrheit und der Gesamtheit. Daher gibt es keine Wahrheit.

Wir aber haben die Vorstellung …

Und zugleich mit unserer Vorstellung sehen wir, daß sie keiner »Wirklichkeit« entspricht, vorausgesetzt, Wirklichkeit bedeutet etwas. Die Wahrheit hingegen ist eine Vorstellung oder Wahrnehmung von uns, wovon, wissen wir nicht, ohne Bedeutung und daher wertlos, wie jede andere unserer Wahrnehmungen auch.

Daher bleiben uns unsere Wahrnehmungen als einzige »Wirklichkeit«, eine Wirklichkeit, die sogar »wirklich« einen gewissen Wert hat, uns aber letztlich nur zu schwadronieren erlaubt. An »Wirklichem« haben wir nur unsere Wahrnehmungen, aber »wirklich« (eine unserer Wahrnehmungen) bedeutet nichts, noch bedeutet »bedeuten« etwas, noch hat das Wort »Wahrnehmung« einen Sinn, noch ist »Sinn haben« etwas, das einen Sinn hätte. Alles ist ein und dasselbe Geheimnis. Ich bemerke jedoch, daß nicht einmal alles etwas bedeuten kann oder »Geheimnis« ein Wort ist, das eine Bedeutung hätte.

Erläuterung der Zeichen

 [?]  Zweifel des portugiesischen Herausgebers an der Entschlüsselung eines handschriftlichen Wortes.  [ …]  Lücke im portugiesischen Original oder nicht lesbar.  [ ]  Vom Herausgeber hinzugefügtes Wort.

Nachbemerkung der Übersetzerin

Im Mai 2002 traf ich Richard Zenith, den Herausgeber der dieser Übersetzung zugrundeliegenden Originalausgabe des Buchs der Unruhe, in einem alten Lissabonner Kaffeehaus an der Avenida da República. Der amerikanische Übersetzer, Literaturkritiker und Pessoakenner kam gerade aus der Nationalbibliothek, in der er seit Jahren einen Großteil seiner Zeit mit dem Erforschen und Transskribieren des umfangreichen und noch immer nicht vollständig gesichteten und veröffentlichten literarischen Nachlasses Fernando Pessoas verbringt.