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Andere sind in den Ländern, die sie besuchen, Namenlose und Fremde. Ich war in den Ländern, die ich besuchte, nicht nur das geheime Vergnügen eines unbekannten Reisenden, sondern auch die königliche Majestät ihres regierenden Herrschers, das Volk, seine Sitten und Gebräuche und die gesamte Geschichte aller Nationen. Landschaften, Häuser, ich habe alles gesehen, weil ich alles war, in Gott erschaffen aus dem Stoff meiner Phantasie.

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Seit langem schon schreibe ich nicht mehr. Seit Monaten lebe ich nicht mehr, daure nur fort zwischen Büro und Physiologie, in einem tiefinneren Stillstand des Denkens und Fühlens. Unglücklicherweise verschafft mir dies nicht einmal Ruhe: In der Fäulnis liegt Gärung.

Seit langem schon schreibe ich nicht nur nicht, sondern existiere nicht einmal mehr. Ich glaube, ich träume kaum noch. Die Straßen sind Straßen für mich. Ich erledige die Arbeit im Büro, widme ihr meine ganze Aufmerksamkeit, wenngleich ich auch immer wieder abschweife: ich schlafe in meinem Hinterkopf, statt nachzusinnen, und bin dennoch immer ein anderer hinter meiner Arbeit.

Seit langem schon existiere ich nicht mehr. Ich bin vollkommen ruhig. Niemand unterscheidet mich von dem, der ich bin. Soeben habe ich mich atmen gespürt, als hätte ich etwas Neues oder Aufgeschobenes vollbracht. Ich erlange das Bewußtsein, Bewußtsein zu haben. Vielleicht erwache ich morgen für mich selbst und nehme den Lauf meiner eigenen Existenz wieder auf. Ich weiß nicht, ob mich das glücklicher macht oder weniger glücklich. Ich weiß nichts. Ich hebe mein Spaziergängerhaupt und sehe, daß auf dem Hügel des Kastells die auf der gegenüberliegenden Seite untergehende Sonne mit einem Widerschein kalten Feuers in Dutzenden Fenstern brennt. Rings um diese hart flackernden Augen liegt der ganze Hügel weich im Licht des verlöschenden Tages. Zumindest kann ich mich traurig fühlen und mir bewußt sein, daß meine Traurigkeit sich soeben – ich habe es mit den Ohren gesehen – mit dem jähen Geräusch der vorüberfahrenden Straßenbahn gekreuzt hat, mit den zufälligen Stimmen junger Leute, dem vergessenen Summen der lebendigen Stadt.

Seit langem schon bin ich nicht mehr ich.

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Zuweilen überkommt mich – und dann meist urplötzlich – mitten im Fühlen eine so furchtbare Lebensmüdigkeit, daß ich nicht die geringste Möglichkeit sehe, sie zu bezwingen. Selbstmord scheint mir ein zweifelhaftes Mittel und der Tod, auch wenn er Bewußtlosigkeit bringt, als nicht ausreichend. Diese Müdigkeit sehnt sich nicht nach dem Ende meines Daseins – was durchaus möglich oder nicht möglich wäre –, sondern nach etwas weit Schrecklicherem, Tiefergehendem, nämlich, niemals existiert zu haben, was ganz und gar unmöglich ist.

Hin und wieder vermeine ich in den gemeinhin wirren Spekulationen der Hindus etwas von diesem Sehnen zu erkennen, das noch negativer ist als das Nichts. Doch entweder mangelt es ihnen an Empfindungsschärfe, um wiederzugeben, was sie denken, oder aber es fehlt ihnen der gedankliche Scharfsinn, um wirklich zu fühlen, was sie fühlen. Tatsache ist, daß ich das, was ich bei ihnen zu erkennen glaube, nicht deutlich sehen kann. Tatsache ist, daß ich mich für den ersten halte, der die finstere Absurdität dieser heillosen Empfindung Worten anvertraut.

Ich heile sie, indem ich sie niederschreibe. Ja, für jede wirklich tiefe Trübsal, sofern sie nicht nur Gefühl ist, sondern auch Ausdruck des Verstandes, gibt es immer das ironische Heilmittel, sie in Worte zu kleiden. Und hätte die Literatur auch sonst keinen Nutzen, dann zumindest diesen, wenn auch nur für wenige.

Leider schmerzen die Leiden des Verstandes weniger als die des Gefühls und die des Gefühls leider weniger als die des Körpers. Ich sage »leider«, weil die Würde des Menschen eigentlich das Gegenteil verlangte. Kein banges Empfinden eines Geheimnisses kann so schmerzen wie Liebe, Eifersucht und Sehnsucht, kann so erstickend wirken wie intensive körperliche Angst, kann so verwandeln wie Zorn oder Ehrgeiz. Doch kann auch kein die Seele zerreißender Schmerz so wirklich Schmerz sein, wie Zahnschmerzen es sein können, Koliken oder (vermute ich) Geburtsschmerzen.

Wir sind so beschaffen, daß der Verstand, der gewisse Emotionen oder Empfindungen adelt und über andere erhebt, sie auch herabwürdigt, wenn er ihre Analyse zu einem Vergleich zwischen ihnen allen ausweitet.

Ich schreibe, als schliefe ich, und mein ganzes Leben ist eine noch nicht unterschriebene Quittung.

In seinem Stall, aus dem er auf die Schlachtbank kommt, kräht der Hahn Hymnen auf die Freiheit, weil man ihm zwei Sitzstangen gegeben hat.

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Regenlandschaft

Mit jedem Regentropfen weint mein verfehltes Leben in der Natur. Etwas von meiner Unruhe liegt in diesem Wechselspiel von Regengetröpfel und Regenguß, mit dem sich die Tristesse des Tages zwecklos über die Erde ergießt.

Es regnet noch und noch. Meine Seele ist naß vom Regnen-Hören. So viel Regen … Mein Fleisch ist flüssig, wäßrig, rings um meine Wahrnehmung des Regens.

Eine beunruhigende Kälte legt ihre eisigen Hände um mein armes Herz. Die grauen […] Stunden ziehen sich in die Länge, ufern aus in der Zeit; die Augenblicke schleppen sich hin.

Dieser Regen!

Die Traufen speien immer wieder winzige Sturzbäche aus. Durch mein Bewußtsein, daß es Rohre gibt, strömt das Geräusch abfließenden Wassers. Träge, schluchzend schlägt er gegen die Scheiben, der Regen; […]

Eine kalte Hand drückt mir die Kehle zu, hindert mich, das Leben zu atmen. Alles in mir stirbt, selbst das Wissen, daß ich träumen kann! Körperlich geht es mir in keiner Weise gut. Alles Weiche, an das ich mich lehne, hat scharfe Kanten für meine Seele. Alle Blicke, in die ich blicke, sind dunkel in diesem erschöpften Tageslicht, geschaffen, darin ohne Schmerz zu sterben.

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Das Gemeinste am Träumen ist, daß alle es tun. Irgendeiner Sache hängt im Dunkel seiner Gedanken der Lastenträger nach, der am hellichten Tag zwischen zwei Aufträgen an die Laterne gelehnt vor sich hin döst. Ich weiß, was ihm durch den Sinn geht: das gleiche, an das auch ich mich verliere zwischen den Eintragungen ins Hauptbuch in der sommerlichen Langeweile des stillen Büros.

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Mein Mitleid gehört eher denen, die vom Wahrscheinlichen, Rechtmäßigen und Naheliegenden träumen, als denen, die dem Entlegenen und Abseitigen nachhängen. Menschen, die in großem Stil träumen, sind entweder verrückt, glauben an das, was sie erträumen, und sind dabei glücklich, oder sie sind schlicht Phantasten, für die ihre Phantasien Seelenmusik ist, die sie einwiegt, ohne ihnen etwas zu sagen. Wer aber vom Möglichen träumt, hat die Möglichkeit zu einer echten Enttäuschung. Daß ich kein römischer Kaiser geworden bin, kann mich nicht sonderlich kümmern, wohl aber kann es mir überaus leid tun, nie auch nur ein Wort an die Näherin gerichtet zu haben, die immer gegen neun um die rechte Straßenecke biegt. Der Traum, der uns das Unmögliche verheißt, enthält es uns schon allein deshalb vor; doch der Traum, der uns das Mögliche verspricht, drängt sich ins Leben selbst und findet nur in ihm seine Lösung. Der eine lebt exklusiv und unabhängig, der andere den Zufälligkeiten der Geschehnisse unterworfen.

Deshalb liebe ich die unmöglichen Landschaften und die großen, wüsten Weiten, die ich nie zu Gesicht bekommen werde. Die historischen Epochen der Vergangenheit sind für mich ein ungetrübtes Wunder, denn ich kann selbstverständlich nicht annehmen, daß sie in meiner Gegenwart Wirklichkeit werden. Ich schlafe, wenn ich von dem träume, was nicht ist; ich erwache, wenn ich von dem träume, was durchaus sein könnte.