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Meine Meinung über Sokrates war - ich muss es zugeben - zwiespältig. Normalerweise traute ich dem Urteil meines Vaters über die Menschen, aber seit ich ihn einmal im kältesten Winter barfuß einen ganzen Nachmittag regungslos in einer Pfütze hatte stehen sehen, war ich nicht mehr ganz sicher, ob er nicht doch vielleicht einfach verrückt war. Ich ging ihm jedenfalls normalerweise aus dem Weg. Wenn ich ihn von Zeit zu Zeit sah, wie man in Athen von Zeit zu Zeit jeden traf, grüßte ich und ließ mich in kein Gespräch verwickeln. Ich glaubte auch die Geschichte um den Orakelspruch nicht, obwohl mein Vater schwor, er kenne Sokrates' Freund, der das Orakel nach dem weisesten Athener gefragt habe. Wenn es ein Gegner gewesen wäre, dem die Pythia in ihrem Rausch Sokrates' Namen zur Antwort gegeben und der dies dann in Athen verbreitet hätte, dann könnte an der Sache etwas dran sein! Aber so?

Die Sonne war höher gestiegen, es wurde wärmer. Das Grau des frühen Morgenhimmels wich dem erbarmungslosen Blau des Tages. Pfeile Apolls nannten wir die unerbittlichen Sonnenstrahlen des Sommers, die uns in den Schatten zwangen. Auch der heutige Tag versprach heiß zu werden, heiß, schwer und trocken.

Ich suchte Sokrates zunächst auf der Agora, fand ihn dort aber nicht, was mich wunderte, war hier doch sein liebster Aufenthaltsort. Ich ging zu Simon dem Schuster, der gleich gegenüber dem Tholos-Gebäude seine Werkstatt hatte, in der man Sokrates oft sah. Wenn die Räte von ihrem Mittagsmahl aus dem Tholos kamen, sprach Sokrates sie von der Werkstatt aus oft an und verwickelte sie in seine gefürchteten Gespräche ... Simon war so alt wie mein Vater; ich kannte ihn, seit ich klein war. Er begrüßte mich freudig, aber auch er hatte Sokrates an dem Tag nicht gesehen. Er riet mir, es bei ihm zu Hause zu versuchen, beschrieb mir den Weg und machte ein vielsagendes Gesicht, als er Sokrates' Ehefrau erwähnte.

Sokrates bewohnte ein schlichtes Haus in einer schmalen Gasse nicht unweit der Straße nach Eleusis. Das Viertel war einfach. Es lebten hauptsächlich kleine Bauhandwerker hier; auch Sokrates' Vater war, nach allem, was ich wusste, Steinmetz gewesen. Ich fand einen einfachen, weißen Bau mit blauen Fensterläden und einem blauen Tor, der eng an die Nachbarhäuser anschloss und erst vor wenigen Tagen frisch gekalkt worden war. Als ich klopfte und nach Sokrates rief, steckte eine hübsche, junge und energisch wirkende Frau ihren Kopf aus dem Fenster.

«Was gibt es?», fragte sie ein wenig unfreundlich.

«Ich muss Sokrates sprechen, ist er hier?», gab ich zurück, gleichfalls nicht allzu verbindlich.

«Mein Mann hat heute keine Zeit für Plaudereien!», sagte sie im Ton noch ein wenig rauer und schickte sich an, den Fensterladen wieder zu schließen. Sie wollte mich doch tatsächlich stehen lassen! Das war ein starkes Stück, trug ich an jenem Tag doch meinen Lederharnisch, an dem man mein Amt und meinen Rang erkannte.

«Hör zu, Weib: Ich bin Nikomachos, der Hauptmann der Toxotai. Ich muss deinen Mann sprechen, und zwar gleich. Es ist besser, du rufst ihn. Es geht nicht um Plaudereien!», befahl ich ihr in harschem Ton, als das Tor vor mir auch schon aufsprang.

«Oh, Nikomachos, wie schön, dich zu sehen», begrüßte mich Sokrates beinahe überschwänglich und trat zu mir auf die Gasse. «Xanthippe, meine Liebe», wandte er sich an seine Frau, «wichtige Geschäfte führen Nikomachos zu mir. Wir werden ein wenig spazieren gehen. Ich helfe dir heute Nachmittag, die Arbeit läuft uns schon nicht davon.» Und bevor sie noch antworten konnte, nahm er mich schon am Arm und führte mich weg.

«Ich bin froh, dass du mich weggeholt hast», flüsterte er mir nach ein paar Schritten ins Ohr. «Ich habe meiner Frau versprochen, mit ihr heute unseren kleinen Garten umzugraben, aber es gibt wirklich nichts, was ich weniger mag als Gartenarbeiten.»

Und so lernte ich ihn kennen. Er war damals wohl sechzig Jahre alt, ein kleiner, kräftiger Mann mit einer beim Boxen zerschlagenen Nase, breitem Gesicht, vollen Lippen und einem bis zur Brust reichenden Vollbart. Dass ein so wenig schöner alter Mann eine so hübsche Frau wie diejenige haben würde, die gerade hinter uns mit einem lauten Knall die Fensterläden zuwarf, hätte kaum jemand erwartet. Unter diesen Umständen musste er die ein oder andere Laune seines jungen Weibes wohl oder übel ertragen.

Sokrates war gekleidet, wie er dies immer war, wenn ich ihn sah: Er trug einen dünnen grauen Wollmantel, den ein einfacher Knoten über der Schulter zusammenhielt, ging barfuß und barhäuptig und schien sich für nichts so wenig zu interessieren wie für sein Äußeres - außer vielleicht noch für Gartenarbeit.

«Was führt dich zu mir, Nikomachos?», fragte er. «Du wirst kaum mit mir über Philosophie sprechen wollen? Obwohl die Frage, was Gerechtigkeit ist, auch für den Hauptmann der Bogenschützen nicht unbedeutend sein kann und vielleicht immer wichtiger wird?»

«Periander», antwortete ich nur. Sokrates blieb stehen.

«Was ist mit ihm?», fragte er besorgt.

«Hast du noch nichts gehört? Sonst verbreiten sich in Athen die schlechten Nachrichten doch wie im Flug. Periander ist tot. Er wurde ermordet.»

Sokrates schloss die Augen. Sein Gesicht verlor seine Heiterkeit, seine Züge wurden bitter. Für einen Moment hielt er sich an einer Hauswand fest, als drohe er zu stürzen. Eine Weile blieb er stehen, wie versteinert. Die Menschen, die an uns vorüberkamen, beäugten den Alten neugierig und misstrauisch. Irgendwo bellte ein Hund, und ein Baby schrie. Der Tod geht in ein Haus. Er nimmt sich still sein Opfer, während das Leben darum herum lärmend weitergeht.

Ich blieb bei ihm und schwieg. Er hielt die Augen geschlossen, seine Lider zitterten leicht. Unmerklich bewegten sich seine Lippen, als spräche er mit sich selbst. Es dauerte lange, bis er sich wieder fasste. Endlich bedeutete er mir, dass wir weitergehen konnten.

«Du mochtest Periander sehr?», fragte ich, nachdem wir die ersten Schritte zurückgelegt hatten.

Sokrates nickte. «Er war ein Schüler. Er hat mir viel bedeutet.»

Wir gingen schweigend weiter. Unwillkürlich hatten wir den Weg zur Agora eingeschlagen. Sokrates' Augen standen ganz fern, so als suche er etwas am Himmel. Dann begann er zu erzählen und gestand, Periander habe ihm seit einiger Zeit Kummer bereitet. Vom Wesen her an sich fröhlich und ausgelassen, habe er von einem Tag auf den anderen etwas Gehetztes, etwas Zerrissenes bekommen. Seine Fragen nach dem, was richtig oder falsch sei, wurden drängender, und Sokrates' Antworten befriedigten ihn nicht mehr. Beinahe heftig habe er Sokrates von sich gestoßen, als der ihm gestand, dass sein einziges Wissen am Ende nur darin bestehe, letztlich nichts zu wissen, und Fragen zu stellen seine größte Fertigkeit sei. «Das ist aber nicht genug!», habe Periander ihn angeschrien und wütend ein Fest verlassen, das Charmides, ein enger Freund Perianders, ausgerichtet habe.

«Und hast du ihn nicht nach seinem Kummer gefragt?», wollte ich von Sokrates wissen.

«Doch, mehrfach», gab er mir zur Antwort. «Aber er meinte nur, es sei nichts. Es gehe ihm gut. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber ich konnte ihn nicht zwingen, sich zu offenbaren.»

«Was ist mit seinen Kameraden? Hast du sie gefragt, was mit Periander sein könnte?»

«Gewiss, aber niemandem schien etwas aufzufallen. Als Charmides damals sah, wie Periander sein Fest grußlos verließ, lachte er nur und meinte, der Junge habe Liebeskummer und sei in irgendeinen harmlosen Liebeshandel verstrickt.»

«Und war er das?»

«Nicht, dass ich wüsste», antwortete Sokrates. «Ich hatte das Gefühl, dass er vor einer sehr schwerwiegenden Entscheidung stand. Deswegen hat er so verzweifelt danach gefragt, was richtig, was gerecht oder verwerflich ist. Er wollte wissen, wie er sich verhalten sollte.»

«Hat er dir keine Beispiele gegeben?»