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«Pinzette», sagte Hippokrates und hielt das Werkzeug hoch, damit ich es sehen konnte. Er lächelte mir aufmunternd zu, dann steckte er dem bemitleidenswerten Leichnam auch noch dieses Gerät in den Mund und stocherte darin herum.

«Da haben wir es ja», war sein abschließender Kommentar, als er ein fast faustgroßes Stück zerknüllten Papyrus aus dem Rachen der Leiche hervorholte und mir mit der Pinzette reichte. Ich ekelte mich und wollte es gar nicht nehmen, aber Hippokrates bedeutete mir, er habe in seinem Leben schon ganz andere Dinge anfassen müssen. Ich solle mich nicht so haben. Also ergriff ich den Papyrus tapfer, hielt ihn so fest, wie ich gerade konnte, und sah, sehr zu meinem Erstaunen, dass auf dem Blatt etwas geschrieben stand. Was blieb mir übrig? Ich öffnete das feuchte Blatt, reinigte es mit einem Tuch, das Hippokrates mir reichte, und glättete es.

Ich betrachtete den Papyrus lange, bis ich verstand. Ich hielt den Ausriss aus einem Buch in meinen Händen. Das Schriftstück hatte abgerissene Enden, die Tinte war hier und da verlaufen und es war nicht mehr alles zu erkennen, aber ein paar Sätze blieben doch lesbar. Hastig überflog ich die Zeilen, hastig verbarg ich das Schriftstück in meinem Ärmel. Der Arzt runzelte die Stirn.

«Und hast du gefunden, wonach du mich hast suchen lassen?», fragte er.

«Vielleicht», antwortete ich leise, «das weiß ich noch nicht. Und du», gab ich die Frage zurück, «hast du gefunden, was du gesucht hast?»

«Den Grund für seinen Tod? Ja, den habe ich gefunden. Unser olympischer Held ist erstickt. Das ist ganz eindeutig. Zuerst hat man ihm von hinten auf den Kopf geschlagen, wahrscheinlich mit einem harten Stock mit einem Metallbeschlag oder mit einer Stange. Das nahm ihm das Bewusstsein, aber es brachte ihn nicht um. Ich kenne diese Art der Verletzung gut, einmal habe ich eine Abhandlung über Kopfverletzungen geschrieben. Kennst du sie? Nein? Ich gebe sie dir gerne ...»

Ich schüttelte den Kopf.

«Nein? Auch gut. Dann hat man ihm diesen Papyrus tief in den Rachen gestopft und ihm den Mund zugehalten, bis er nicht mehr geatmet hat. Daher rühren auch die Einblutungen, die du gesehen hast. Hätte man ihn erwürgt und dadurch das Blut gestaut, dann hätte er davon noch viel mehr.»

«Aber zu ersticken ist ein fürchterlicher Tod», wandte ich ein. «Hätte er im Todeskampf nicht um sich geschlagen und sich gewehrt?»

«Nicht in diesem Fall», entgegnete Hippokrates. «Der Schlag auf den Hinterkopf war sehr hart. Dadurch war er schon außer Gefecht gesetzt. Außerdem war er betrunken, vermutlich schwer betrunken.»

«Betrunken? Woher weißt du das?», fragte ich ungläubig.

«Komm zu mir herüber», forderte er mich auf. Ich folgte widerstrebend. «Hier, beuge dich herunter und rieche.» Ich gehorchte und - tatsächlich, obwohl die Leiche schon den für die Toten typischen Geruch ausströmte, war darunter noch der Duft von geharztem Wein zu erahnen.

Ich bat Hippokrates, niemandem von dieser Untersuchung und ihren Ergebnissen zu berichten, und er versprach es. Gemeinsam kleideten wir Periander wieder an. Als das geschafft war, verschloss ihm Hippokrates den Mund, indem er ihm ein Band um Kiefer und Kopf wickelte und verknotete.

«Man sieht kaum, dass ich ihm den Kiefer brechen musste, findest du nicht?», fragte er. Ich nickte und lächelte verkrampft.

Als Honorar gab ich Hippokrates zehn Drachmen. Das war viel Geld, aber bei Asklepios und seinen Jüngern wollte ich keine Schulden haben. Der Arzt bedankte sich und schenkte mir einen Beutel aus Leder, in dem ich den Papyrus aufbewahren und mitnehmen konnte.

«Du solltest dir noch die Hände waschen», riet er mir zum Abschied. Dann nahm er seinen Stock und ging, fröhlich und bester Dinge, wie es schien.

Ich blieb allein im Zimmer des Toten. Hier lag einer vor mir, der geliebt und geachtet worden war wie kaum ein anderer. Er war schön, er war jung und reich. Und doch hatte ihn jemand getötet. Weil er ihn hasste? Weil er ihn liebte? Oder nur wegen eines wertvollen Rings? Es sind in Athen schon Menschen wegen einer einzigen Kupfermünze erschlagen worden. Man findet sie abseits der Wege mit aufgerissenem Mund - viele verbergen ihr Geld noch zwischen Zähnen und Backen. Wieso nicht also auch wegen eines Rings? Was war dann aber mit dem Schriftstück und dem grausigen Tod?

Ich griff in meinen Ärmel und zog den Papyrus hinaus. Dann las ich, was noch zu entziffern war:

Ich kann nicht billigen, dass die Athener die Staatsform gewählt haben, die sie nun einmal haben, denn sie geben den Gemeinen gegenüber den Edlen den Vorzug ...

Es gilt für jedes Land, dass alle Menschen edler Gesinnung Gegner der Demokratie sind ... Denn sie sind darauf bedacht ... Gutes zu tun ... Das Volk aber wird von Unwissenheit und Schwäche beherrscht - die Armut muss es ins Verbrechen treiben.

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ich ging hinunter, wo Lykon mit Kritias im Innenhof saß. Sie unterhielten sich. Kritias schien zu scherzen. Er lachte und stieß Lykon freundschaftlich an. Lykon lächelte. In meinem Herzen fühlte ich einen Stich.

Als Kritias mich sah, veränderte sich sein Gesicht. Es bekam wieder diesen unbewegten und hochmütigen Ausdruck, mit dem er mich bereits empfangen hatte - bevor er Lykons gewahr wurde. Perianders Eltern waren nirgendwo zu sehen. Für einen Moment glaubte ich, ein leichtes Wimmern zu hören, wie es vom Haus in den Hof drang, aber ich war mir nicht sicher.

Ich wollte die Familie in ihrer Trauer nicht weiter stören und bat Kritias, mich bei Perianders Eltern zu entschuldigen. Dann verließ ich mit Lykon dieses unglückliche Haus.

Vor dem Tor standen die Galater unbeweglich auf ihrem Posten. Unser Fahrer wartete. Er hatte die Pferde versorgt und sich unter eine Zypresse gesetzt. Das Narbengesicht schien kein Wort mit den Wachen gewechselt zu haben. Als er uns sah, erhob er sich nur allzu träge.

«Zurück in die Stadt jetzt», herrschte ich ihn an, weil er sich auch beim Anspannen der Gäule nicht sonderlich beeilte.

«Ach, auf einmal ist es eilig?», fragte er halblaut.

«Was hast du gesagt?»

»Nichts, Herr», antwortete er höhnisch.

Er fuhr uns in die Stadt zur Agora zurück. Sie war jetzt völlig überlaufen. Es war Abend geworden, der Athener liebste Tageszeit, und alles strömte aus den Häusern und Gassen zum Marktplatz hin. Hier trafen sich Barbaren und Hellenen, Sklaven und Herren, Metöken und Athener, Frauen, Hetären und Dirnen und gingen ihren Geschäften und Vergnügungen nach - mal ehrenvoll und mal nicht. Die Agora war nicht einfach nur ein Marktplatz, sondern der Mittelpunkt des städtischen Lebens, und die Agora von Athen war nicht Mittelpunkt irgendeiner Stadt. Sie war das schlagende Herz Griechenlands.

Hier fanden sich der Basar und die Buden der Kaufleute, das Quellhaus, wo die Frauen Wasser schöpften und tratschten, die Tempel Apolls, Zeus' und Ares', die Amtshäuser und der Sitzungssaal des Rates, die Münze, die Bibliothek und schließlich die Stoen, unsere Säulenhallen, die Treffpunkte der Männer, der Politiker, Dichter und Redner.

Nachdem uns der Fahrer abgesetzt hatte, fragte ich Lykon, was Kritias von ihm gewollt habe.

«Nichts, er war nur freundlich zu mir. Das ist alles», gab er zur Antwort.

«Er war vielleicht ein wenig zu freundlich zu dir», meinte ich.

Lykon begann schelmisch zu lächeln. «Jetzt bist du es wohl, der eifersüchtig ist?», fragte er kokett und hatte vielleicht sogar ein wenig recht damit. Ich konnte es aber nicht zugeben.