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»Warum begleitet Ihr mich nicht einfach mal eine Nacht lang und findet es selbst heraus?«, schlug ich vor. »Ich könnte Euch die finsteren Gassen und die Hütten zeigen, in denen ehrliche Leute, die einfach nur kein Glück hatten, von dem Abfall leben, den wir gedankenlos wegwerfen. Und ich könnte Euch mit ein paar höchst erfolgreichen Verbrechern bekannt machen, mit Experten in puncto Grausamkeit und Brutalität, für die Menschenleben eine Handelsware sind. Viele von denen haben elegante Amtsstuben in der Stadt und wunderschöne Ehefrauen und Kinder, die in den bezaubernden Villen der neuen Vorstädte ein angenehmes Leben führen. Diese Leute geben aufwendige Abendgesellschaften. Sie investieren in Immobilien. Aber sie erwerben ihren Reichtum mit Blut. Ich kann Euch die Realität dieser Stadt zeigen, wenn es das ist, was Ihr sehen wollt.«

Der Dichter fuhr sich theatralisch mit seinen Stummelfingern über die Schläfen.

»Ihr habt recht. Die Realität überlasse ich Euch. Zu viel davon kann ich nicht ertragen – wer kann das schon? Ich gebe zu, dass ich ein Feigling bin. Von Blut werde ich ohnmächtig, den Anblick armer Leute und ihrer entsetzlichen Gewänder hasse ich, und selbst wenn mich mal zufällig einer auf der Straße nur anrempelt, kreische ich auf, weil ich sofort fürchte, ich würde ausgeraubt und zusammengeschlagen. Nein, ich ziehe es vor, auch weiterhin in der kultivierten Gesellschaft von Worten und Schriftrollen in meiner komfortablen Bibliothek zu bleiben.«

»Worte sind heutzutage aber vielleicht auch nicht mehr sicher«, meinte ein anderer Mann, der weiter hinten stand, an der schattigsten Stelle des Sonnensegels. »Vergesst nicht, dass wir uns in der Gesellschaft eines Medjai befinden. Die Medjai sind selbst ein Bestandteil der Realität dieser Stadt und auch nicht gefeit gegen die Korruption und die Dekadenz, von der wir hier sprechen.« Dabei sah er mich kalt lächelnd an.

»Ah. Sobek. Ich habe mich die ganze Zeit schon gefragt, ob du dich an unserer Unterhaltung beteiligen würdest«, meinte Nacht.

Der Mann, den er damit ansprach, war fortgeschrittenen mittleren Alters und hatte kurzes graues Haar, das nicht gefärbt war. Seine graublauen Augen hatten einen stechenden Blick, und der Zorn auf die Welt stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wir verbeugten uns voreinander.

»Ich halte Gespräche nicht für ein Verbrechen«, sagte ich vorsichtig. »Obwohl manche da möglicherweise anderer Meinung sind.«

»In der Tat. Heißt das, dass der Tatbestand eines Verbrechens nur vorliegt, wenn eine Tat ausgeführt wurde, und nicht, wenn beabsichtigt oder formuliert wird, sie zu begehen?«, wollte er wissen.

Die anderen sahen einander an.

»Ja, das ist richtig. Andernfalls wären wir alle Kriminelle und säßen hinter Gittern.«

Sobek nickte nachdenklich.

»Vielleicht ist die menschliche Fantasie das Ungeheuer«, meinte er. »Ich glaube, es gibt kein einziges Tier, das von seiner Fantasie gefoltert wird. Das wird nur der Mensch …«

»Die Fantasie ist in der Lage, das Beste und das Schlechteste in uns hervorzubringen«, pflichtete Hor ihm bei, »und ich weiß, was meine eigene gerne einigen Leuten antun würde.«

»Deine Dichtung ist Folter genug«, scherzte der Architekt.

»Und das ist der Grund, warum ein zivilisiertes Leben, Moral, Ethik und so weiter so wichtig sind«, erklärte Nacht mit Nachdruck. »Wir sind zur Hälfte Erleuchtete und zur Hälfte Ungeheuer. Anstand muss auf Vernunft und gegenseitigem Nutzen fußen.«

Sobek hob seinen Becher.

»Ich trinke auf deine Vernunft. Ich wünsche ihr allen nur erdenklichen Erfolg.«

Er wurde unterbrochen von einem Grölen, das von der Straße nach oben drang. Nacht klatschte in die Hände und rief:

»Es ist so weit!«

Daraufhin eilte die gesamte Runde auf die Brüstung der Terrasse zu und zerstreute sich, weil jeder der Männer nun um den besten Platz kämpfte.

Auf einmal stand Sekhmet neben mir.

»Komm, Vater, komm, oder du wirst alles verpassen!«

Dann zog sie mich mit sich. Wieder ertönte ein lauter Jubelschrei und dröhnte wie Donner durch die Straße unter uns und durch die Massen, die sich im Herzen der Stadt drängten. Wir hatten das offene Gelände vor den Tempelmauern perfekt im Blick.

»Was ist da los?«, fragte Thuju.

»Im Inneren des Tempels«, antwortete Nacht, »warten der König und die Königin auf den richtigen Moment, um zu erscheinen und die Götter willkommen zu heißen.«

»Und was ist im Inneren des Tempels?«

»Ein Mysterium in einem Mysterium in einem Mysterium«, sagte er.

Genervt blinzelte sie ihn an.

»Das beantwortet meine Frage nicht«, entgegnete sie. »Überhaupt nicht.«

Er lächelte.

»Da drin befindet sich ein außerordentliches neues Bauwerk: die Säulenhalle. Man hat viele Jahre daran gebaut, und sie ist gerade erst fertiggestellt worden. Es gibt auf der ganzen Erde nichts Vergleichbares. Die Säulen reichen bis in den Himmel, und es sind wundervoll bemalte Bilder darin eingemeißelt, die den König dabei zeigen, wie er Opfergaben darbringt. Und das Dach ist mit zahllosen goldenen Sternen der Göttin Nut bemalt. Dahinter befindet sich der gewaltige Sonnenhof, der von vielen großen, schlanken Säulen gesäumt ist. Und dahinter geht man dann durch ein Tor nach dem anderen, und hinter jedem werden die Decken niedriger und niedriger und die Schatten dunkler und dunkler – und diese Gänge führen in das Herz des Ganzen: zum verschlossenen Schrein des Gottes, in dem er bei Morgengrauen geweckt wird, mit den besten Speisen genährt und in die kostbarsten Gewänder gehüllt und in der Nacht wieder zu Bett gebracht wird. Es ist aber nur einigen wenigen Priestern und dem König gestattet, diesen Ort zu betreten, und niemandem, der da hinein darf, ist es erlaubt, jemals über das zu sprechen, was er dort erlebt hat. Und du darfst niemals jemandem verraten, was ich dir hier jetzt gerade anvertraut habe. Das ist nämlich ein großes Geheimnis. Und große Geheimnisse bringen immer große Verantwortung mit sich.« Mit strenger Miene sah er sie an.

»Ich will das sehen.« Pfiffig grinste sie ihn an.

»Das wird nie geschehen«, warf Sekhmet da auf einmal ein. »Du bist nur ein Mädchen.«

***

Nacht überlegte gerade, wie er auf diese Äußerung reagieren sollte, als die Trompeten eine ohrenbetäubende Fanfare bliesen. Das war für die Priester das Signal, sich zeitgleich auf den makellos gefegten Boden zu knien, und für die Soldaten, Habachtstellung einzunehmen, wobei ihre Speer- und Pfeilspitzen in der unerbittlichen Sonne glitzerten. Im nächsten Moment erschienen aus den Schatten der gewaltigen Tempelmauern zwei kleine Gestalten, die auf Thronen saßen, die von Bediensteten getragen und von hohen Regierungsbeamten und deren Gehilfen begleitet wurden. In dem Augenblick, da man sie aus der Dunkelheit in die Sonne trug, fiel das überwältigende Licht auf ihre Gewänder und hohen Kronen, die daraufhin gleißend hell erstrahlten. Vollkommene Stille legte sich über die Stadt. Sogar die Vögel verstummten. Die wichtigste Phase des Festrituals hatte begonnen.

Allerdings passierte eine ganze Weile gar nichts, ganz so, als seien sie zu früh zu einem Fest erschienen und keiner habe sich Gedanken darüber gemacht, wie man die beiden nun unterhalten könnte. Die königlichen Schirmträger zogen Sonnenschirme hervor und schützten die königlichen Gestalten mit den Kreisen aus Schatten. Dann verkündete weiter vorn ein Aufschrei die Ankunft des Gottes in seinem goldenen Schrein, der auf den Schultern seiner Träger ruhte. Langsam und unter sichtlicher Anstrengung bog die Prozession um die Ecke und tauchte auf wie ein Lichtblitz. Das Königspaar saß regungslos da wie Puppen, wie kostümierte, steife, kleine Puppen.

Angeführt von hochrangigen Priestern, die Gebete und magische Formeln sprachen, flankiert von Akrobaten und Musikern und gefolgt von einem weißen Opferstier, näherte sich der Gott. Endlich erhoben sich der König und die Königin: Tutanchamun, das Lebende Abbild des Amun, und Anchesenamun.