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»Sie sieht aus, als hätte sie Angst.«

Ich schaute nieder auf Sekhmet und dann wieder auf die Königin. Meine Tochter hatte recht. Unter den Requisiten der Macht, der Krone und den Gewändern, sah die Königin nervös aus.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, wie aus der dichten Menschenmenge, die unter Schirmen im grellen Licht der Sonne stand, mehrere Personen von anderen auf den ineinander verschlungenen Händen von Akrobaten vom Boden gehoben wurden, und im nächsten Moment erfolgte eine Reihe von flinken Bewegungen, und ich sah Arme, die irgendetwas warfen – kleine dunkle Bälle, die in hohem Bogen in die Luft flogen, über die Köpfe der Menge hinweg geradewegs in Richtung des aufrecht stehenden Königs und der Königin. Die Zeit schien plötzlich wie in Zeitlupe weiterzulaufen, wie sie das in den letzten Momenten vor einem Unglück stets tut.

Auf einmal explodierten Spritzer aus hellem Rot im makellosen Staub und auf den Gewändern des Königs und der Königin. Tutanchamun trat stolpernd einen Schritt zurück und sackte auf seinen Thron. Die Stille des tiefen Schocks hielt die Welt gleichsam eine Sekunde lang an. Im nächsten zerbrach sie in tausend Einzelteile voller Lärm, Aktivität und Geschrei.

Ich fürchtete, dass Tutanchamun tot war. Doch hob er langsam seine Hände, entsetzt, angewidert und nicht gewillt, das rote Zeug zu berühren, das über seine königlichen Gewänder tropfte und im Staub eine Pfütze bildete. Blut? Ja, aber nicht das Blut des Königs, denn dafür war da allzu plötzlich zu viel Blut. Der Schrein des Gottes geriet ins Wanken, weil die ihn tragenden Priester nicht wussten, wie sie reagieren sollten, und auf Anweisungen warteten, die nicht kamen. Anchesenamun sah sich verwirrt um. Und dann, als würden sie aus einem trägen Traum erwachen, hagelte es sowohl vonseiten der Priester wie der Armee Befehle.

Mir fiel auf, dass die Mädchen schrien und weinten, Thuju sich an mich presste und Tanefert die anderen zwei an sich drückte, während Nacht mir mit einem kurzen Blick zu verstehen gab, wie sehr ihn diese Freveltat schockierte und verwunderte. Die Männer und Frauen auf der Dachterrasse wandten sich einander zu, hielten sich die Hände vor den Mund oder suchten in diesem Augenblick der Katastrophe am Firmament Trost. Unter uns kam es zu einem Tumult, weil die Menge in Panik geriet, sich verwirrt umdrehte und die schützenden Reihen der Medjai zu durchbrechen begann, um auf die Straße der Sphingen zu gelangen und die Flucht vom Schauplatz des Verbrechens anzutreten. Die Medjai reagierten, indem sie auf jeden einschlugen, den sie mit ihren Schlagstöcken treffen konnten, Unbeteiligte an den Haaren mit sich rissen, Männer und Frauen zu Boden warfen – wo sie von anderen niedergetrampelt wurden – und so viele Menschen wie Vieh zusammentrieben, wie sie eben konnten.

Noch einmal schaute ich nach unten auf die Stelle, von der die Bälle geworfen worden waren, und erblickte das vor Angst verzerrte Gesicht einer jungen Frau. Ich war sicher, dass sie eine der Personen war, die diese Bälle geworfen hatten; ich sah mit an, wie sie sich umschaute, einzuschätzen versuchte, ob man sie beobachtet hatte, und sich dann zielstrebig abwandte und inmitten einer Gruppe junger Männer verschwand, die sich um sie geschart zu haben schienen, als wollten sie die Frau schützen. Sie spürte irgendetwas, schaute nach oben und sah, dass ich sie beobachtete. Einen Augenblick lang sah sie mir fest in die Augen, dann verbarg sie sich unter einem Sonnenschirm, weil sie wohl hoffte, so im allgemeinen Tumult unterzutauchen. Ich sah jedoch eine Gruppe von Medjai, die sich wie Fischer jeden schnappten, dessen sie habhaft werden konnten, und so saß sie in der Falle, zusammen mit vielen anderen.

Derweil wurden der König und die Königin mit unziemlicher Hast zurück in die Sicherheit der Tempelmauern geschleppt, und ihnen folgten der sich in seinem goldenen Schrein verbergende Gott und die Unmengen Würdenträger, die vor lauter Angst geduckt davonhuschten. Alle verschwanden sie jenseits der Tempeltore und ließen einen Aufruhr im Herzen der Stadt hinter sich, wie es ihn in dieser Form noch nie zuvor gegeben hatte. Ein paar mit Blut gefüllte Harnblasen – Waffen, die plötzlich so kampfstark waren wie der eleganteste Bogen und der treffsicherste Pfeil – hatten alles geändert.

Ich schaute auf die Straße unter uns, auf der es vor Menschen nur so wimmelte, die sich in Panik wanden, und für einen kurzen Moment verwandelte sich das Bild vor meinem geistigen Auge in einen Abgrund aus dunklen Schatten, und mittendrin erblickte ich die Schlange des Chaos und der Zerstörung, die insgeheim ständig zusammengerollt unter unseren Füßen liegt, und sah, wie sie ihre goldenen Augen aufschlug.

4

Ich wies meine Familie an, in Nachts Haus zu warten, bis es wieder sicher genug war, dass sie in Begleitung von dessen Hauswachen nach Hause zurückkehren konnten. Dann nahm ich Thot an die Leine und trat vorsichtig aus der Tür nach draußen auf die Straße. Medjai trieben die letzten Menschenansammlungen zusammen und verhafteten und fesselten jeden, von dem sie mutmaßten, dass er irgendetwas verbrochen hatte. Aus der Ferne drangen Rufe und Schreie durch die schwüle, rauchige Luft. Die Straße der Sphingen sah aus wie eine riesige Papyrusrolle, auf der die wahre Geschichte dessen, was sich hier soeben zugetragen hatte, auf dem eingetretenen Sand festgehalten war, hingekritzelt in Form der Fußspuren der fliehenden Menschen, die Tausende von Sandalen dabei zurückgelassen hatten. Abfall trieb ziellos dahin. Böen aus heißer Luft drehten sich zornig im Kreis und erstarben in Wirbeln aus Staub. Kleine Gruppen versammelten sich um die Toten und Verletzten, weinten und schluchzten die Götter an. Die verschmierten und zertrampelten Überbleibsel der vielen Blumendekorationen für das Fest wurden zu einer unangemessen versöhnlichen Opfergabe an den Gott all dieser Verwüstung.

Ich untersuchte das verspritzte Blut, das jetzt klebrig und in der Sonne zu schwarzen Pfützen erstarrt war. Thot schnüffelte elegant daran und sah mit flatterndem Blick zu mir auf. Fliegen kämpften erbittert um diese neuen Schätze. Behutsam hob ich eine der Harnblasen vom Boden und drehte sie in meiner Hand. Es war nichts Besonderes an ihr, ebenso wenig wie an der Tat selbst. Radikal waren die Originalität und die vulgäre Effektivität dieser abscheulichen Tat; denn die Täter hatten den König damit gedemütigt, als hätten sie ihn an den Füßen aufgehängt und mit Hundekot beschmiert.

Unter dem in Stein gemeißelten Bildnis unserer Standarte – dem Schakal Upuaut, dem Öffner der Wege – betrat ich das Hauptquartier der Medjai. Schlagartig war ich von Chaos umgeben. Männer unterschiedlichsten Ranges hasteten umher und brüllten Befehle und Gegenbefehle, womit sie demonstrierten, dass sie etwas zu sagen hatten und schwer beschäftigt waren. Durch die Menschenmenge hindurch erblickte ich Nebamun, den Chef der thebanischen Medjai. Sichtlich verärgert, mich zu sehen, starrte er mich an und bedeutete mir mit einer schroffen Geste, in seine Amtsstube zu kommen. Ich seufzte und nickte.

Er trat die schäbige Tür zu, und alsdann saßen Thot und ich geduldig auf unserer Seite seines niedrigen Tisches, der nicht unbedingt ordentlich, sondern mit Papyrusrollen, Essensresten und schmutzigen Öllampen übersät war. Sein breites Gesicht, aus dem wie immer dunkle Bartstoppeln stachen, sah finsterer aus denn je. Während er Thot mit einem verächtlichen Blick bedachte, den dieser unerschrocken erwiderte, schob er mit seinen Wurstfingern verschiedene Schriftstücke von einer Seite auf die andere – für einen Schreibtischhengst hatte er die falschen Hände. Er war ein Mann der Straße, kein Mann der Schriftrollen.

Ein persönliches Gespräch hatten er und ich bisher vermieden. Ich hatte mich aber bemüht, deutlich zu machen, dass ich keinen Groll gegen ihn hegte, weil er statt meiner befördert worden war. Für mich wäre sein Job nichts gewesen, obwohl mein Vater enttäuscht war und Tanefert es sich gewünscht hatte. Sie sähe lieber, wenn ich in einer sicheren Amtsstube arbeiten würde; sie weiß aber, dass ich es hasse, in einem stickigen Raum eingesperrt zu sein und mich mit dem langweiligen Unsinn interner Politik zu befassen. Nebamun tat das alles gern. Nur, jetzt hatte er Macht über mich, und wir wussten beide, dass es so war. Tief drinnen wurmte mich das, ein Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet hatte.