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Robert Silverberg

Über den Wassern

Und die Erde war gestaltlos und leer; und Finsternis lag über dem Flachen auf dem Tiefen. Und der Geist GOTTES wehte über dem Flachen der Wasser.

— GENESIS, 1:2

Das Meer kennt kein Mitleid, keine Treue, kein Gesetz, kein Gedenken… Seine Unbeständigkeit kann menschlichen Zwecken nur durch unverzagte Entschlossenheit und schlaflose, bewaffnete, argwöhnische Wachsamkeit, in denen eigentlich immer mehr Haß als Liebe liegt, dienstbar erhalten bleiben.

— JOSEPH CONRAD, Der Spiegel der See[1]

Für Charlie Brown, den Focus des LOCUS — und wahrscheinlich auch grad zur rechten Zeit.

Über ihnen lag Blau, unter ihnen ein anderes Blau; zwei unermeßliche, unzugängliche Abgründe, und das Schiff hing scheinbar zwischen dem einen und dem anderen in der Schwebe, ohne sie zu berühren, bewegungslos in einer perfekten Windstille gefangen. In Wirklichkeit aber lag es im Wasser, wohin es gehörte, und nicht über ihm, und es machte die ganze Zeit über gute Fahrt. Vier Tage hindurch und vier Nächte zog das Schiff nun stetig hinaus, fort von Sorve, immer tiefer hinaus auf das unwegsame Meer.

* * *

Als Valben Lawler am Morgen des fünften Tages früh an Deck des Flaggschiffes trat, ragten ringsum überall Hunderte von langen Silberrüsseln aus dem Wasser. Dies war neu. Und das Wetter hatte ebenfalls umgeschlagen: der Wind hatte sich ganz gelegt, die See war bleiern-träge geworden, nicht mehr nur still, sondern auf eine bestimmte Art elektrisch aufgeladen und voll einer potentiellen explosiven Spannung. Die Segel flappten schlaff, die Takelage baumelte schlapp herab. Über den Himmel erstreckte sich ein dünner, scharfer grauer Dunststreifen, wie etwas, das von einem anderen Ort der Welt hier hereingedrungen war. Lawler, schlank, großgewachsen, in mittleren Jahren, aber mit dem Körper und der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Athleten, bedachte die Wassergeschöpfe drunten mit einem schiefen Grinsen. Sie waren dermaßen häßlich, daß sie schon fast wieder attraktiv wirkten. Unheimliche Biester, dachte er.

Falsch: Unheimlich, ja; Biester, nein! In den unangenehm scharlachroten Augen blitzte zweifellos so etwas wie kühler Verstand. Noch eine intelligente Spezies auf dieser Welt, die damit schon so reichlich gesegnet war.

Und unheimlich waren sie im Grunde einfach nur eben deshalb, weil sie keine primitiven Bestien waren. Und ziemlich gefährlich sahen sie aus, die schmalen Schädel auf den vorgereckten Röhrenhälsen. Sie sahen aus wie große metallene Würmer, die sich aus dem Wasser heraufrecken. Und diese offenbar recht funktionstüchtigen Kiefer, die kleinen sägeblattscharfen Zähnchen, dutzendweise in der Sonne blitzend. Es sah dermaßen absolut unmißverständlich bösartig aus, daß man nicht anders konnte, als sie zu bewundern.

Lawler spielte ein Weilchen mit dem Gedanken, über Bord zu gehen und sich mitten unter diesen Wesen zu vergnügen.

Dann überlegte er, wie lange er dann noch leben würde. Höchstwahrscheinlich keine sechs Sekunden… Und danach — Frieden, ewiger Frieden. Eine hübsche perverse Vorstellung dieses Wunschbild eines raschen kleinen Selbstmords. Aber selbstverständlich nicht ernstgemeint. Lawler war kein suizidaler Typ, sonst hätte er die Sache schon vor langer Zeit hinter sich gebracht, und überdies war er derzeit gegen Depressionen und Angstzustände und ähnliche ärgerliche Sachen chemisch abgeschirmt. Der kleine Schluck Stumpfkrauttinktur, den er sich nach dem Aufstehen erlaubt hatte, wie dankbar war er nun dafür. Wenigstens für ein paar Stunden lieferte ihm die Droge einen kleinen undurchdringlichen Schutz und ruhige Sicherheit, und er konnte vielzähnigen Ungeheuern wie diesen da lachend in die Augen schauen. Es brachte doch gewisse Vorteile mit sich, Arzt zu sein — der einzige Doktor in der Gemeinschaft.

Lawler erblickte Sundira Thane, die sich beim Fockmast weit über die Reling beugte. Anders als Lawler war die dunkelhaarige schlaksige Frau ein erfahrener Ozeanfahrer und hatte zahlreiche interinsulare Fahrten hinter sich gebracht, die manchmal über weite Strecken geführt hatten. Sie kannte die See. Er dagegen war hier nicht in seinem Element.

»Hast du so was früher schon mal gesehen?« fragte er.

Sie blickte auf. »Das sind Drakkens. Häßliche Biester, was? Und schlau und schnell. Die verschlucken dich ganz, wenn du ihnen bloß ’ne halbe Chance dazu gibst. Oder auch bloß ’ne Viertelchance. Nur ein Glück, daß wir hier oben sind und die dort drunten.«

»Drakkens«, wiederholte Lawler. »Hab noch nie von so was gehört.«

»Sie sind Nordlinge. Werden selten in tropischen Wassern oder hier in diesem Meer gesichtet. Ich vermute, sie wollten mal Sommerferien machen.«

Die schmalen gezähnten Schnauzen waren halb so lang wie ein Mannsarm und ragten wie ein Wald von Schwertern aus dem Wasser herauf. Lawler sah flüchtig schlanke bandförmige Leiber im Wasser, die wie poliertes Metall blinkten, in die Tiefe baumeln. Manchmal tauchte die Schwanzflosse eines Drakken auf oder eine mächtige schwimmhautbesetzte Pranke. Flammenrot helle Augen erwiderten seinen Blick mit beunruhigender Intensität. Sie sprachen miteinander in hohen Stimmlauten, einen scharfen hallenden Klirrton wie dem von Beilen auf dem Amboß.

Von irgendwo tauchte Gabe Kinverson auf und plazierte sich halbwegs zwischen Lawler und Thane an der Reling. Kinverson, ein sehniger Riese mit einem flachen windverbrannten Gesicht, hatte die Werkzeuge seiner Tätigkeit dabei: ein Bündel Haken und Schnur und eine lange Angelrute aus Holzkelp. »Drakkens«, brummte er. »Was für Mistviecher. Einmal bin ich mit meinem Boot und einem Zehnmeter- Seeleoparden im Schlepp heimgefahren, und fünf Drakkens haben ihn mir glatt vom Haken gefressen. Und ich konnte verdammt gar nichts dagegen machen.« Kinverson hob eine zerbrochene Belegpinne auf und schleuderte sie ins Wasser. Die Drakkens stürzten sich darauf, als wäre es ein Köder, schoben sich schulterhoch in die Luft, schnappten von allen Seiten danach und wippten wütend; dann ließen sie den Pflock sinken, und er verschwand.

»Aber sie können doch wohl nicht an Bord raufkommen?« fragte Lawler.

Kinverson lachte. »Nein, Doc. An Bord kommen können sie nicht. Zu unserm Glück.«

Die schätzungsweise dreihundert Drakkens schwammen mehrere Stunden lang neben den Schiffen her, konnten mühelos die Reisegeschwindigkeit mithalten, stießen die bösartigen Schnauzen in die Luft und keiften und gellten unablässig ihre bedrohlichen Vokalkommentare. Aber gegen die Morgenmitte tauchten sie alle zusammen ab und außer Sichtweite und wurden nicht mehr gesehen.

Kurz darauf braßte der Wind auf. Die Matrosen der Tageswache kletterten geschäftig in der Takelung umher. Hoch drüben im Norden kristallisierte sich schwarz ein kleiner Sturmregen zusammen, direkt unter einer gemein aussehenden Wolkendecke, und schleifte einen steilen dunklen Netzvorhang mit sich, der nicht ganz bis zur Oberfläche der See reichte. In der Nähe der Schiffe behielt die Luft ihre trockene Durchsichtigkeit, bekam aber eine knisternde Schärfe.

Lawler stieg unter Deck. Dort wartete Arbeit auf ihn, allerdings nichts besonders Anstrengendes dabei. Neyana Golghoz hatte eine Blase an ihrem Knie; Ehrwürden Father Quillan war aus seiner Koje gefallen und hatte sich eine Prellung am Ellbogen zugezogen; Leo Martello hatte Sonnenbrand auf dem Rücken. Als Lawler die Patienten versorgt hatte, rief er alle übrigen Schiffe vorschriftsmäßig über Funk, um festzustellen, ob es auf ihnen irgendwelche medizinischen Probleme gebe. Gegen Mittag stieg er wieder an Deck, um frische Luft zu schöpfen. Nid Delagard, der Reeder der Flottille und Leiter der Expedition, besprach sich gerade mit dem Kapitän des Flaggschiffes, Gospo Struvin, am Ruderhaus. Ihr Lachen hallte hemmungslos über die ganze Länge des Schiffsdecks. Die beiden waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, klobige stiernackige Kerls, stur und ordinär, voll einer grobschlächtigen Energie.

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1

Joseph Conrad, The Mirror of the Sea, dt. von Ernst Wagner, S. Fischer, 1990.