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Lucy Eyelesbarrow blieb die Ruhe selbst und fragte: «Was für eine Leiche?»

«Eine Frauenleiche», sagte Miss Marple. «Die Leiche einer Frau, die in einem Zug ermordet wurde – erdrosselt, um genau zu sein.»

Lucy zog die Augenbrauen hoch.

«Das ist allerdings ungewöhnlich. Erzählen Sie mehr davon.»

Das tat Miss Marple. Lucy Eyelesbarrow hörte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Schließlich sagte sie:

«Alles hängt davon ab, was Ihre Freundin gesehen hat – oder glaubt…»

Sie beendete den Satz nicht, sondern ließ ihn fragend in der Schwebe.

«Elspeth McGillicuddy phantasiert nicht», sagte Miss Marple. «Deswegen verlasse ich mich auf ihre Worte. Bei Dorothy Cartwright – also, bei der wäre das etwas ganz anderes. Dorothy weiß immer eine gute Geschichte zu erzählen, oft glaubt sie sie auch, und gelegentlich hat sie sogar einen wahren Kern, aber das ist auch alles. Elspeth gehört hingegen zu den Frauen, denen es schwer fällt zu glauben, dass etwas Außergewöhnliches oder Seltsames überhaupt geschehen kann. Sie ist kaum zu beeinflussen, wie Granit.»

«Ich verstehe», sagte Lucy nachdenklich. «Gut, gehen wir einmal davon aus. Und wo komme ich ins Spiel?»

«Ich war sehr beeindruckt von Ihnen», sagte Miss Marple, «und ich selbst bin ja nicht mehr robust genug, um loszuziehen und alles selbst zu erledigen.»

«Ich soll Nachforschungen für Sie anstellen? Etwas in der Richtung? Aber hat die Polizei das nicht längst getan? Oder glauben Sie, man wäre dort nachlässig gewesen?»

«O nein», sagte Miss Marple. «Man war keineswegs nachlässig. Nur habe ich meine eigenen Ansichten, was diese Frauenleiche angeht. Irgendwo muss sie schließlich abgeblieben sein. Im Zug ist sie nicht gefunden worden, also muss sie aus dem Zug gestoßen oder geworfen worden sein – an den Gleisen ist sie aber auch nicht gefunden worden. Ich habe daher denselben Zug genommen und nach Stellen gesucht, wo die Leiche aus dem Zug geworfen worden sein könnte, aber trotzdem nicht an den Gleisen gefunden werden musste, und es gibt eine solche Stelle. Kurz vor Brackhampton macht die Strecke auf einem hohen Bahndamm eine weite Kurve. Würde eine Leiche dort hinausgeworfen, wo sich der Zug in die Kurve legt, dann würde sie, glaube ich, direkt den Bahndamm hinabstürzen.»

«Aber auch dort müsste sie doch gefunden werden.»

«Gewiss. Sie muss weggebracht worden sein… Aber dazu kommen wir gleich. Schauen Sie bitte mal auf die Karte – hier ist die Stelle.»

Lucy beugte sich über den Kartenausschnitt, auf den Miss Marples Finger zeigte.

«Das liegt heute am Stadtrand von Brackhampton», sagte Miss Marple, «aber eigentlich ist es ein Landsitz mit weitläufigen Parks und Anlagen. Das alles ist noch ganz unberührt – umringt von Siedlungen kleiner Vorstadthäuser. Der Landsitz heißt Rutherford Hall. Er wurde 1884 von einem Mann namens Crackenthorpe erbaut, einem schwerreichen Unternehmer. Der Sohn dieses ersten Crackenthorpe ist heute ein alter Mann und wohnt dort, wenn ich recht informiert bin, mit einer Tochter. Die Eisenbahn führt um das halbe Grundstück herum.»

«Und was genau soll ich jetzt tun?»

Miss Marple antwortete ohne Zögern.

«Ich möchte, dass Sie dort eine Anstellung finden. Alle Welt schreit heutzutage nach tüchtigen Hausangestellten – ich glaube, das dürfte keine Schwierigkeit sein.»

«Nein, das glaube ich allerdings auch nicht.»

«Es heißt in der Gegend, Mr. Crackenthorpe sei ein ziemlicher Geizhals. Sollten Sie sich also mit einem niedrigen Gehalt abfinden, werde ich für die Differenz aufkommen, da Ihr Salär höher als üblich sein sollte.»

«Wegen der Schwierigkeit?»

«Weniger der Schwierigkeit als vielmehr der Gefahr wegen. Wissen Sie, es könnte gefährlich werden. Darüber möchte ich Sie nicht im Unklaren lassen.»

«Ich wüsste nicht, dass ich mich von eventuellen Gefahren abschrecken ließe», sagte Lucy nachdenklich.

«Das hatte ich auch nicht angenommen», sagte Miss Marple. «Sie sind von anderem Schrot und Korn.»

«Sie haben sich vermutlich sogar gesagt, die Gefahr würde mich locken, oder? Ich bin in meinem Leben nur sehr selten in Gefahr geraten. Aber glauben Sie im Ernst, es könne gefährlich werden?»

«Jemand hat erfolgreich ein Verbrechen begangen», führte Miss Marple aus. «Niemand hat Zeter und Mordio geschrien, kein Verdacht ist laut geworden. Zwei alte Damen haben eine ziemlich phantastische Geschichte erzählt, die Polizei ist ihr nachgegangen und hat sie nicht erhärten können. Also herrscht für den Täter eitel Sonnenschein. Ich kann mir nicht denken, dass ihm, egal wer er ist, daran liegt, dass Sie Ihre Nase in die Angelegenheit stecken – erst recht nicht, wenn Sie Erfolg haben.»

«Wonach genau soll ich suchen?»

«Zeichen am Bahndamm, Stofffetzen, abgebrochene Zweige – solche Sachen.»

Lucy nickte.

«Und dann?»

«Ich werde in der Nähe sein», sagte Miss Marple. «Meine alte Bedienstete, die treue Florence, wohnt in Brackhampton. Sie hat ihre alten Eltern jahrelang gepflegt. Inzwischen sind beide verstorben, und sie vermietet Zimmer – ausschließlich an respektable Menschen. Bei ihr werde ich wohnen. Sie wird mich hingebungsvoll umsorgen, und ich glaube, ich sollte in nächster Nähe bleiben. Ich schlage vor, Sie erwähnen beim Vorstellungsgespräch, Ihre alte Tante wohne in der Gegend, und Sie suchten eine Stelle in ihrer Nähe. Ferner könnten Sie sich gewisse Zeiten zu Ihrer freien Verfügung ausbedingen, um sie so oft wie möglich besuchen zu können.»

Lucy nickte wieder.

«Eigentlich wollte ich übermorgen nach Taormina», sagte sie, «aber der Urlaub kann warten. Ich kann Ihnen jedoch nur für drei Wochen zusagen. Danach stehe ich schon unter Vertrag.»

«Drei Wochen sollten vollauf genügen», sagte Miss Marple. «Wenn wir in drei Wochen nichts herausgefunden haben, können wir die ganze Sache als blanken Unsinn abtun.»

Miss Marple verabschiedete sich, und Lucy rief nach kurzem Überlegen eine Stellenvermittlung in Brackhampton an, deren Leiterin sie gut kannte. Sie erklärte ihren Wunsch, eine Stelle in der Gegend anzutreten, um ihrer «Tante» nahe sein zu können. Nachdem sie mehrere reizvollere Stellen abgelehnt hatte, was schwierig war und einiges Geschick erforderte, fiel der Name Rutherford Hall.

«Genau das suche ich», sagte Lucy in festem Ton.

Die Stellenvermittlung rief Miss Crackenthorpe an, und Miss Crackenthorpe rief Lucy zurück.

Zwei Tage darauf war Lucy auf dem Weg aus London nach Rutherford Hall.

II

Lucy Eyelesbarrow fuhr in ihrem Kleinwagen durch die Flügel eines imposanten Eisentors. Gleich dahinter stand ein ehemaliges Pförtnerhäuschen, das inzwischen völlig verfallen war, aber es war schwer zu sagen, ob durch Kriegsschäden oder bloße Vernachlässigung. Eine lange, gewundene Auffahrt führte durch große düstere Rhododendrongruppen bis zum Haus. Lucy schnappte nach Luft, als sie das Haus sah, eine Kleinausgabe von Windsor Castle. Die Steintreppe vor dem Eingang konnte Pflege gebrauchen, und die Kieswege waren von Unkraut überwuchert.

Lucy läutete eine altmodische schmiedeeiserne Glocke, deren Lärm im Gebäude verhallte. Eine nachlässig gekleidete Frau öffnete, wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah Lucy misstrauisch an.

«Werden erwartet, was?», sagte sie. «Miss Irgendwas-barrow, hat sie gesagt.»

«Ganz recht», sagte Lucy.

Im Haus war es unglaublich kalt. Ihre Führerin brachte sie durch eine dunkle Halle und öffnete eine Tür zur Rechten. Lucy war überrascht, als sie sich in einem anheimelnden Salon mit Bücherregalen und Chintzsesseln wiederfand.