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»Du bist glücklich, daß du nicht die Jahre zählen mußtest. Fünf Jahre Verbannung von dem Besten und Höchsten meiner Kraft.«

»Ich kann es mir denken, daß dir jede Wiederholung auch alles Entsetzen von damals hätte furchtbar zurückbringen müssen.«

»Eine Laune, mein Lieber, eine Laune. Oder glaubst du vielleicht, mein Gewissen … Willst du vielleicht sagen, daß mehr als ein unglücklicher Zufall …«

»Aber … aber, Prinz! Du scheinst noch immer nicht ganz überwunden zu haben. Deine Aufregung damals hat deine Nerven stark mitgenommen.«

»Ja, es war furchtbar, als er so vor mir lag. Blut an seinem Wams und mein Degen voll Blut. Kein Theatertod, von dem man sich erhebt, um sich dem Beifall des Publikums lächelnd zu verbeugen, sondern der wirkliche Tod. Noch ein paar Zuckungen und Krämpfe und dann taub für das Klatschen. Dieses Klatschen war furchtbar. Sie wußten nichts und glaubten an einen Triumph der Schauspielkunst. Fortinbras mußte die Worte finden, die uns anderen erstarrt waren.«

Die Wirtin brachte die Lampe, froh, einen Vorwand gefunden zu haben, um zu Prinz vorzudringen. Aber ihre Liebenswürdigkeiten und die erhöhte Farbigkeit ihres Gesichts gewannen keine Beachtung. Als sie schmollend gegangen war, legte Hamlet den Degen auf den Tisch. »Ein Zufall, Freund, ein unglücklicher Zufall. Ein Versehen des Requisiteurs und der Tod stand unter uns. Ich schwöre dir, ein Zufall.«

»Es zweifelt niemand daran.«

»Seitdem trage ich meine eigenen Waffen, von denen ich weiß, daß sie stumpf und unschädlich sind.« Er bohrte die Spitze des Degens gegen die Handfläche, als wollte er einen Richter von seiner Unschuld überzeugen. »Und doch … wenn sich auf der Bühne die Klingen kreuzen, so zittere ich und meine Fechterkünste sind nicht besser als die irgendeines Statisten.«

»Ich habe es bemerkt.«

»Hast du es bemerkt? Nicht wahr! Vielleicht hat es auch das Publikum bemerkt. Und überhaupt, weißt du, ich fühle mich seitdem nicht mehr voll. Die Kritik schont mich nur. Aber ich will kein Almosen des Beifalls. Wenn ich den Hamlet wieder gespielt habe, bin ich frei. Ich muß wieder einem Laertes gegenübertreten, ich muß ihn sich erheben und lächeln sehen, weißt du, dann habe ich dieses greuliche Gespenst besiegt.«

Er wuchs zu voller Schlankheit empor und fiel aus einer raschen Fechterstellung mit einigen Stößen aus, die einen körperlosen Feind durchbohrten. Dann sank der Degen wie in Verzweiflung am Sieg. »Du warst … nicht wahr, du warst doch damals meist um mich? Als ich im Nervenfieber lag. Was habe ich in meinen Delirien gesprochen? Ich meine, woraus setzten sich meine Fantasien zusammen?«

»Bruchstücke aus Hamlet zumeist. Von Ophelia kam viel vor und auch von Laertes. Du nanntest sie mit ihren bürgerlichen Namen und warfst die Beziehungen durcheinander. Ein wenig Wirklichkeit war auch dabei, denn ich denke, das Gerücht von deinem Verhältnis mit der Witte hatte doch recht.«

»Unsinn!«

»Also nicht? Ich dachte, weil sie doch gleich nachher mit Pönale aus dem Engagement ging. Man sprach davon, und einige wollten wissen, daß es zwischen euch wegen des Laertes-Tiefenbach einen großen Krach gab.«

»Unsinn! Unsinn!«

»Es scheint dich aber doch beunruhigt zu haben. Du sprachst … freilich waren das Fieberideen.«

»Nichts als Fieberideen. Mein Gehirn nahm auf, was es davon fand und mengte alles durcheinander. Ich danke dir … aber du sprichst nicht davon, überhaupt ist es am besten, wenn wir nicht mehr davon sprechen. Komm, Geist meines Vaters, wir wollen gehen und Dämon Alkohol beschwören.«

Sie rüsteten sich, gingen an der feierlich bemalten Wirtin vorbei, großartig wie Könige und verschlossen wie Verschwörer und zitierten im Hinterzimmer der ›Blauen Affengattin‹ den Dämon Alkohol.

Die Proben zu ›Hamlet‹ wurden diesmal sehr gründlich genommen. Prinz, der mit zusammengebissenen Lippen, bleich und entschlossen auf der Bühne stand, wehrte sich gegen jeden Schlendrian und alles zitterte davor, einen zweiten solchen Ausbruch zu erleben, wie bei der ersten Probe. Er hatte einen nachlässigen Statisten gepackt und mit zwei Ohrfeigen in die Kulissen geworfen, daß er winselnd zu den Füßen des Polonius niederstürzte. Der Statist hatte nun den rauhen Hamlet geklagt, aber die anderen hüteten sich doch, durch die Unarten der Proben seinen Zorn aufzurufen. Fast unheimlich, regungslos wie der steinerne Gast stand Prinz unter den in ihrer Stimmung sehr gedrückten Kollegen, und die leichten Witze schlichen gebunden in den dunkeln Winkeln umher. Vor seinem unerbittlichen Gesicht zerbrachen die immer bereiten Scherze in armselige Worte voller Bescheidenheit und Angst, als ob hier etwas vor ihnen stünde, dessen Bedeutsamkeit weit über allem Schein der Bühne wäre.

»Wie einer, der seine eigenen Totenspiele inszeniert«, flüsterte König Claudius dem Gustav Rietschi zu, der den Geist von Hamlets Vater zu mimen hatte. Der junge Darsteller des Laertes, der erst zwei Jahre im Engagement war, wagte die gefährliche Frage nach dem Unfall seines Vorgängers. An Rietschis Schweigsamkeit prallte seine Neugierde ab und er mußte sich mit dem begnügen, was ihm König Claudius nachmittags beim Tarockspiel an unzusammenhängenden Gerüchtfragmenten, barocken Bruchstücken, gewagten Vermutungen und boshaften Anspielungen mitteilen konnte. Was er da hörte, regte ihn auf, und er empfand prickelnd die lüsterne Sensation, an eine Stelle zu treten, die vom Tod verflucht und geweiht war. Prinz kleidete sich für seine Fantasie in den Panzer des Sonderbaren und Geheimnisvollen, und aus dem einen geflüsterten Wort stiegen ihm die köstlichen Wonnen furchtsamen Abscheues auf. Zwischen zwei Runden hatte sich König Claudius weit vorgeneigt, damit es Güldenstern, der Kiebitz, nicht hören könne: »Man spricht, aber du wirst davon den Mund halten, daß das damals nicht Zufall war, sondern … na, also Absicht, weil der Tiefenbach mit der damaligen Ophelia …« Ein kräftig angesagter Pagatultimo brachte König Claudius auf andere Gleise, und der junge Laertes mußte sich selbst in den Zauberwald der Möglichkeiten auf die Suche begeben. Sein Eifer und seine nervöse Anspannung stiegen, je wunderbarer ihm das Erlebnis erschien, mit einem Mörder die Klingen kreuzen zu sollen. Diese Vorstellung lockte ihn an wie ein Abgrund, und er kam sich so interessant vor, wie der Bändiger einer ungeheuren Gefahr, die unfaßbar und deshalb um so größer und schöner ist. Er war darum ganz außer sich und zweifelte an der göttlichen Gerechtigkeit, als er am Tag vor der Aufführung die Anzeichen einer schweren Influenza fühlte. Trotzdem er einen Teil seiner Monatsgage in Kognak anlegte, zwang ihn das Fieber nachmittags ins Bett, und der Arzt nahm ihm alle Aussicht auf das große Erlebnis des morgigen Abends.

Der Direktor und der Theatersekretär waren nicht weniger verzweifelt, fluchten auf das schlechte Wetter, das den Spielplan gar nicht beachte und griffen gleichfalls zum Kognak. Beim fünften Glas machte der Sekretär den Vorschlag, den Laertes durch einen minderen Darsteller zu besetzen. Aber der Direktor fuchtelte ihm seine Gegengründe vor das Gesicht: nie … nie … nie würde Prinz eine Besetzung durch eine minderwertige Kraft zugeben. »Er will sich doch gewissermaßen rehabilitieren. Glänzend einführen und alles zeigen, was er kann. Das ist einfach unmöglich.« Beim siebenten Glas endlich erstrahlte der Ausweg in wunderbarer Helle. »Hildemann aus Prag als Aushilfe«, schrie der Sekretär und erhob sich halb von seinem Samtfauteuil, und »Hildemann aus Prag«, donnerte der Direktor.

Sie brachten ihren Vorschlag vor Prinz, und er nickte mit der düsteren Miene Hamlets Gewährung.

»Hildemann aus Prag ist gut«, sagte Gustav Rietschi und beschwichtigte den Freund, den der Wechsel doch unruhig machte. »Mit Hildemann brauchst du keine Probe, der ist fest und hat schon mit den besten Leuten gespielt, verlaß dich auf ihn.« Hildemann sagte zu und versprach zur rechten Zeit, noch kurz vor der Vorstellung – früher war es ihm einfach unmöglich – einzutreffen. Für Prinz war dieser Tag der Aufführung voll kochender Unruhe.