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»Ich hätte doch gerne noch mit ihm geprobt«, sagte er abends zum Garderobier, als er den Degen umhängte. Dann schritt er auf der dunklen Bühne auf und ab und sah in das leere Haus, immer wieder zu dem in die Schleier des Geistes gehüllten Freund zurückkehrend. »Ich bin sehr aufgeregt, ich bitte dich, verlaß mich nicht.«

»Kein Wunder, wenn du heute Lampenfieber hast …«

»Lampenfieber? … Fast möchte ich sagen Angst … Weiß der Teufel … ist Hildemann schon hier?«

»Ich weiß es nicht. Aber er ist gewiß schon hier.«

Und Prinz wanderte weiter auf der noch mit allem Grauen des Unlebendigen erfüllten Bühne, vom Vorhang zum Rande der Schloßterrasse von Helsingör und wieder zurück, als ob er mit seinen Schritten die Qual der Einsamkeit zerreißen wollte. Die Wachen zogen auf und lehnten die Hellebarden an die gemalten Türme, um sich noch die Stiefel hochzuziehen und die Halskrausen zurechtzumachen, und Hamlet erschauerte vor ihren Schatten, als ob sie aus einer fremden, unbegriffenen Welt über die Bühne kröchen. Aus dem lebhaften, gefüllten Haus, aus dem mit Erwartungen versammelten Publikum kam ihm diesmal keine Zuversicht, und er wagte nicht einer Unruhe nachzufragen, die hinter den Kulissen jemanden zu vermissen schien.

Das Zeichen zum Beginn riß ihn empor, und mit einem plötzlichen Erschrecken begann er das nun Unwiderrufliche zu bedauern. Die Frage, warum er sich auf dieses grausame Spiel voll unbehaglicher Erinnerungen, voll blutiger Gestalten eingelassen habe, bestürmte ihn, und er hoffte nun, den Sinn des verzweifelten Hin und Her im Hintergrunde der Bühne im Ausbleiben Hildemanns zu finden. Dann war die Aufführung unmöglich, mußte im letzten Augenblick abgesagt werden, und aus allen Ängsten führte für ihn ein Weg der Rettung. Aber nach seiner ersten Szene erwartete ihn ein Schatten und trat auf ihn zu.

»Herr Hildemann?«

»Herr Prinz?«

Hamlets Vater scherzte über die Verspätung.

»Oh, ich bin zuverlässig. Wenn ich zugesagt habe, so komme ich sicher.«

»Wollen wir nicht rasch die letzte Szene probieren.«

»Das Gefecht? Es ist nicht nötig. Sie fechten gut, und Sie sollen sehen, daß ich ein tüchtiger Gegner bin. Wir wollen es schon machen …«

Laertes nahm Abschied von Polonius und Ophelia. Seine Warnung vor Hamlet war trocken und geschäftsmäßig und doch seltsam erregend. Dann verschwand er, und als ihn Hamlet, der von einer schreckhaften Unruhe umhergetrieben wurde, suchen wollte, war er nicht zu finden, als wäre er wirklich jenseits eines unüberbrückbaren Meeres. Zitternd lag seine Seele in der Szene mit dem Geist seines Vaters auf den Knien. Das unerklärliche und Gespenstige des so vertrauten Vorganges wirkte wie Gift auf sein Blut, bis er mit Flimmern in den Augen und Sausen vor den Ohren am Ende fast zusammenbrach.

Im Publikum antworteten Schauer der Ahnung auf die in die Grenzen der Kunst gezwungene Angst Hamlets. Man fühlte sich vor der Offenbarung mystischer Ereignisse, vor einer seltsamen Symbiose von Schauspiel und Wirklichkeit und schrieb alle Erregung der unvergleichlichen Künstlerschaft des Darstellers zu.

Hamlet erschien an der Rampe und verneigte sich, totenblaß und mit zuckenden Händen vor dem begeisterten Haus. Dann jagte er wieder Hildemann nach, ohne ihn finden zu können. Rietschi hatte die Schleier des Geistes zurückgestreift und sah aus wie ein Beduinenhäuptling. Er wollte dem Freund durch seinen Händedruck von den kühlen Schätzen seiner Ruhe geben. Aber Prinz faßte ihn und riß ihn fast um: »Hörst du, hörst du, das ist gar nicht Hildemann …«

»Na, erlaube, wer sollte das denn sein …«

»Hildemann ist’s nicht. Ich kenne ihn nach den Bildern …«

»Und ich kenne ihn persönlich und sage dir, es ist Hildemann …«

»Merkst du denn nicht, Mensch, um Gottes willen, wie sich unter seinem Gesicht ein zweites immer vorschieben will. Es ist, als ob er zwei Schichten übereinander hätte. Ein Gesicht kämpft mit dem anderen und drängt es zurück … aber es wird ausbrechen können …«

»Hast du vielleicht aus Angst vor der Influenza zu viel Kognak …«

»Um Gottes willen! Sieht denn das niemand? … sieht denn das niemand, daß er mich haßt. In der Szene mit Ophelia … wie er mit den Zähnen knirschte und mit den Augen rollte, als er von Hamlet sprach. Das ist nicht Spiel, das ist echter Haß … jenseits aller Maske … Und wo ist er, wo steckt er? Ich will ihn zur Rede stellen.«

»Willem, fall nit von’s Jerüst.«

»Mach keine Späße. Ich bitte dich, verlaß mich nicht … bleib in meiner Nähe. Immer in meiner Nähe. Ich will dir etwas Schreckliches sagen … ich … ich fürchte mich.«

Rietschi begann zu besorgen, daß die Vorstellung mit einer Absage endigen werde und verstärkte alle suggestiven Kräfte seiner Freundschaft. Zwischen stumpfsinnigem Brüten, einer verlorenen Gleichgültigkeit, einem hastigen Aufzucken und einer unsteten Reizbarkeit ging die Darstellung des Hamlet weiter. Er gab das Schauspiel eines Verurteilten, der sich vor der Vernichtung in sich verkriecht und dann wieder mit den Fäusten gegen die Wände schlägt. Der Monolog über Sein oder Nichtsein schwankte zwischen melancholischer Teilnahmslosigkeit und furchtbaren Ausbrüchen; die letzten Sätze kamen mühsam und undeutlich hervor, während die Zähne die Lippen zerbissen, daß nach den letzten Worten zwei dünne Blutstrahlen über das nackte Kinn rieselten. So grausam hatte noch nie jemand gelacht, so klirrend und spitz war noch nie der Hohn der Bühne gewesen, eine ganze Sammlung von fein ausgeklügelten Folterinstrumenten, und das Publikum jubelte und konnte sich vor Entzücken nicht fassen. Es fühlte sich mitgerissen, selbst daran beteiligt und empfand die Qualen dieses Gehirns wollüstig an sich, wie das Knirschen der Säge in den Operationssälen angenehm durch die eigenen Knochen geht.

Der Theaterarzt kam im Zwischenakt auf die Bühne und fing Hamlet in einer Ecke ein: »Sie reiben sich auf. Was treiben Sie heute?« Aber Prinz lachte, stieß den Arzt grob von sich und rannte, von seinem verzweifelten Freund begleitet, fort, um Hildemann zu suchen. Seine Angst wirkte auf die übrigen Darsteller, und die Vorstellung begann sich über den Schein der Bühne zur Ahnung gräßlicher Bedeutsamkeit zu erheben. In alle Tiefen durchwühlt, zitterte die Dichtung, und die Schauspieler sahen sich in den Zwischenakten an, als ob sie nun den eigentlichen Sinn aller dieser Vorgänge erfahren müßten.

»Suchen Sie, suchen Sie«, schrie Hamlet dem Inspizienten, dem Regisseur, den Garderobieren zu, und alle suchten den verschwundenen Laertes.

Als die Szene seiner Rückkehr im vierten Akt kam, war er plötzlich da, betrat die Bühne und fügte sich kalt und steinern in das Spiel, als ob er nicht bemerkte, daß die übrigen sich fürchteten, nahe bei ihm zu stehen. Er besprach mit König Claudius den Mord Hamlets und blieb ruhig und sicher, nur wie von einer heimlichen Freude belebt, als ob sich etwas lang Ersehntes nun endlich unabwendbar erfüllen müßte. Hamlet hörte hinter der Szene, schwer auf den Freund gestützt, alle Heimlichkeiten des Anschlages gespannt an, und es schien, daß er sie wie neue und unerwartete Nachrichten in sich überwinden müsse. Seine Unruhe wurde von einer großen Schwere erdrückt und erstarrte von einem trägen, drohenden Koloß, der aus kleinen, grausamen Augen blinzelt. Aber die Handlung strömte unaufhaltsam weiter und riß über alle Verzögerungen hinweg, die Hamlet im Zwischenakt zu erfinden suchte. Man verlängerte die Pause, und er genoß sie wie eine Gnadenfrist, stumm mit dem Freund zwischen den Gräbern auf und ab wandernd, die man für die nächste Szene aufwarf.

Auf dem Friedhof, am Grabe der Ophelia stießen Hamlet und Laertes aufeinander. Es war ein Anprall, der das Publikum erschütterte, und grauenvoll ernst entspann sich das Ringen in dem offenen Grabe, ein Kampf, dem Hamlet mit leeren Augen und wankenden Knien entkam.