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Er ist entschlossen, niemand nach Berlin zu schicken.

Auch aus Paris und Washington kommt an diesem Tage kein Impuls an Polen, das Risiko des Kriegsausbruchs zu mindern. Eher gespenstisch wirkt das, was sich zwischen Washington, Paris und Warschau abspielt. Man beschwört sich gegenseitig, hart zu bleiben. Frankreichs Chef des Außenamtes Leger legt Premierminister Daladier darauf fest, die Polen nicht zu zwingen, mit den Deutschen zu verhandeln.348 Er tut dies – was ja ungewöhnlich ist – im Beisein des amerikanischen Botschafters Bullitt, was einem Signal an Roosevelt gleichkommt. Ganz ähnliches spielt sich zur selben Zeit in Warschau ab. Dort läßt man den amerikanischen Botschafter Biddle wissen, was die Polen von Hitlers Vorschlag halten und wie es weitergehen soll. Um 19.30 Uhr meldet Biddle aus Warschau an Außenminister Hull in Washington, daß der polnische Außenminister Beck zu Hitlers Verhandlungsangebot „40 mal Nein“ gesagt hat.349 Noch immer gibt es keine Warnung der Amerikaner an die Polen, daß sie jetzt auch von Osten her bedroht sind. Am späten Abend wird Biddle noch einmal zu Beck bestellt, der ihm die Gründe auseinandersetzt, warum er keine Kompromisse eingeht. Beck sagt auch, daß er nicht gedenkt, einen

Verhandlungsführer nach Berlin zu schicken. Beck hat sich mit dem Offenlegen seiner Absicht den Segen Washingtons geholt, da Biddle ihm nicht abrät.

Bei dieser Haltung Polens fällt der Blick unwillkürlich zurück auf England, den Vermittler in der Krise. Um 10 Uhr morgens, kurz vor Dahlems' Ankunft bei Premierminister Chamberlain, geht dort ein Telegramm vom englischen Botschafter Kennard aus Warschau ein.350 Kennard berichtet, wie er die momentane Lage in Polen sieht, und er teilt mit, was er selbst von Hitlers so kurz anberaumter Frist und von Berlin als Tagungsort für die deutsch-polnischen Gespräche hält. Kennard ist sich sicher, daß Beck nicht nach Deutschland reisen wird, und daß Polen eher kämpfen und untergehen werde, als daß Beck jemanden nach Berlin entsendet. Kennard schreibt, daß die polnische Regierung, welche die deutschen März-Vorschläge ohne die Rückendeckung Englands abgelehnt hat, nun weitergehende deutsche Forderungen unmöglich annehmen könne, wo sie England und Frankreich als Verbündete an ihrer Seite hat. Was Kennard nicht erwähnt, ist, was er Außenminister Beck denn nun geraten hat.

Sein Bericht wirkt so, als habe er Beck selbst empfohlen, niemand nach Berlin zu schicken.351

348 Bavendamm, Roosevelts Weg zum Krieg, Seite 603

349 Bavendamm, Roosevelts Weg zum Krieg, Seite 603

350 British War Bluebook, Document 84

351 Der englische Historiker Nicoll behauptet in seinem Buch „Englands Krieg gegen Deutschland“ Seite 187, daß „Botschafter Kennard den polnischen Staatsmännern ständig geraten hat, nicht zu verhandeln, sondern es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen.“ Nicoll führt allerdings keine Quelle für diese Behauptung an.

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Um 19.00 Uhr schickt Halifax das nächste Telegramm nach Warschau. Er weist Kennard an, Beck zu informieren, daß die deutsche Seite die englischen Vorschläge zu direkten deutsch-polnischen Verhandlungen und zur Fünf-Mächte-Garantie angenommen und versichert hat, Deutschland werde die vitalen Interessen Polens respektieren. Doch von den neuen 16 Punkten Hitlers, die er zum Teil schon von Dahlems kennt, wird kein Sterbenswort erwähnt. Statt dessen,

„daß es so aussieht, als würde die deutsche Regierung an neuen Vorschlä-

gen arbeiten, und wenn die eintreffen, könne man weitersehen.“ 352

Chamberlain versucht ganz offensichtlich, Hitlers Zeitreserve zu verbrauchen.

Gegen Abend wird auch für die deutsche Seite sichtbar, daß Außenminister Halifax die ganze Frist, die Hitler für eine Friedens- und Verhandlungslösung offenläßt, hat verstreichen lassen, ohne daß er Polen drängt, sofort Gespräche mit den Deutschen aufzunehmen. Um 18.50 Uhr schickt er Henderson in Berlin die Weisung, der deutschen Reichsregierung „nahezulegen, den polnischen Botschafter einzuladen, die neuen deutschen Vorschläge entgegenzunehmen und nach Warschau weiterzuleiten“. Halifax unterläuft Hitlers Forderung nach einer sofortigen Aufnahme von Verhandlungen, indem er schreibt:

„Wir können der polnischen Regierung nicht raten, daß ein polnischer Unterhändler mit Vollmachten zur Entgegennahme der deutschen

Vorschlage nach Berlin kommt.“353

Das Unterlaufen ist perfekt, weil Halifax den Brief so spät auf die Reise schickt, daß Hitlers Termin für den Beginn der deutsch-polnischen Gespräche bei Ankunft schon verstrichen ist.

Um 23 Uhr rechnet Außenminister von Ribbentrop in Berlin nicht mehr mit dem Erscheinen eines polnischen Abgesandten. Die von Hitler als „Erwartung“ gesetzte Frist ist damit ergebnislos verstrichen. Kurz vor Mitternacht meldet sich dann – zu dieser Stunde völlig unerwartet – Botschafter Henderson, um die gerade erwähnte Antwort seiner Regierung auf Hitlers gestrigen Brief zu überreichen und zu erklären, man habe den Polen nicht zu Gesprächen hier und heute raten können.

So ist der 30. August zum Kräftemessen zwischen Chamberlain und Hitler geworden, statt zum Ringen um den Frieden. Hitler in Berlin hat den ganzen Tag gehofft, daß Chamberlain angesichts der Kriegsgefahr die Polen drängt, auf Deutschland zuzugehen. Nach dem Brief des englischen Premierministers vom 28. August hatte er ja auch davon ausgehen können, daß die Briten nun zwischen den Deutschen und den Polen vermitteln werden. Hitler glaubt, daß die Drohung mit der aufmarschierten Wehrmacht den Polen Beine macht. Er ist sich ziemlich sicher, daß sein sehr moderates Angebot an Polen auch Chamberlain in letzter Stunde auf die deutsche Seite zieht.

352 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 539

353 British War Bluebook, Document 88

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Chamberlain in London hat indessen den Polen nicht den geringsten Wink gegeben, in Bezug auf Danzig und den Korridor die eigene Position zu überdenken.

Er versucht statt dessen – mit Noten hin und Noten her – im Interesse Polens Zeit zu gewinnen. Ihm geht es nicht um Danzig und um Minderheitenfragen. Ihm geht es darum, daß Hitler seit drei Jahren mit Drohungen dem Ausland gegen-

über durchsetzt, was er für richtig hält. Chamberlain will Hitler „zähmen“. So verbaut er eine der letzten Chancen, die der Frieden hat, indem er die Vermittle-rei so in die Länge zieht, bis Hitlers „Stichtag“ kommt. Chamberlain wartet, bis Hitler das Gesicht oder die Geduld verliert. Er läßt den 30. August mit Friedensbeteuerungen und diplomatischem Taktieren verstreichen, statt im Sinne eines Maklers zielstrebig zu vermitteln. Hitler und Chamberlain sind an diesem Tag auf der Schwelle zum Krieg beide die Gefangenen ihrer Erfahrungen der letzten Jahre. Hitler weiß, daß die Siegermächte dem Deutschen Reich seit 1920 so gut wie keine Zugeständnisse zur Verbesserung der Lage nach dem Krieg gemacht haben. Alles bisher Erreichte ist durch Eigenmächtigkeit oder durch die Androhung von Gewalt erstritten worden. Chamberlain weiß, daß das so gewesen ist, und daß er nun keine weiteren Zugeständnisse unter Drohung dulden darf.

Vielleicht denkt sich mancher Engländer an diesem Tag, was Churchill kurz vor Hitlers Amtsantritt am 24. November 1932 in einer Unterhausrede ausgesprochen hat:

„Wenn die englische Regierung wirklich wünscht, etwas zur Förderung des Friedens zu tun, dann sollte sie die Führung übernehmen und die Frage Danzigs und des Korridors ihrerseits wieder aufrollen, solange die Siegerstaaten noch überlegen sind. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, kann keine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden bestehen.“ 354

Der letzte Tag vor Kriegsausbruch, Donnerstag, 31. August