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Das soeben erwähnte mitternächtliche Treffen von Botschafter Henderson und Minister von Ribbentrop wird entgegen beider Absicht zum Desaster. Die Nerven der zwei Männer liegen nach so vielen Verhandlungsnächten in der letzten Woche blank. Henderson überreicht die Antwortnote Chamberlains vom 30. August, 18.50 Uhr.355 Er fügt dem Brief zwei mündliche Erklärungen hinzu. Die erste betrifft die beiderseitige Zurückhaltung, die nun erwartet werde. Er sagt, man könne von der polnischen Regierung nur eine völlige Zurückhaltung erwarten, wenn die Provokationen durch die deutsche Minderheit in Polen aufhörten. Es seien Berichte im Umlauf, nach denen die Deutschen in Polen Sabotageakte ver-

übten, die die schärfsten Gegenmaßnahmen seitens der polnischen Regierung rechtfertigten. Von Ribbentrop verliert die Beherrschung und entgegnet, daß die 354 Kern, Seite 82

355 Das folgende Gespräch ist der Niederschrift des Chefdolmetschers, Dr. Schmidt, entnommen. Siehe ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 461

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unerhörtesten Sabotageakte von den Polen ausgingen. Im Auswärtigen Amt lägen allein Berichte über 200 Morde an Volksdeutschen in Polen vor. Das Gespräch wird frostig.

Als zweites nimmt Henderson Bezug auf die deutsche Forderung nach Erscheinen eines bevollmächtigten Vertreters der polnischen Regierung in Berlin. Henderson erklärt, die britische Regierung sei nicht in der Lage, der polnischen zu empfehlen, auf dieses Verhandlungsverfahren einzugehen. Sie schlage der Reichsregierung vor, den normalen diplomatischen Weg einzuschlagen und die deutschen Vorschläge an den polnischen Botschafter zu übergeben. Dann fragt Henderson von Ribbentrop, ob er ihm die Vorschläge schriftlich aushändigen könne. Von Ribbentrop merkt, daß die englische Regierung ihren Einfluß bei der polnischen bisher offensichtlich nicht genutzt hat, um sie zu sofortigen Verhandlungen zu bewegen.356 Auch aus Polen ist ja bis zur Stunde kein Verhandlungs-signal zu sehen. So kann Ribbentrop sogar vermuten, daß England Polen in der Danzig-Frage freie Hand läßt. Ihm kommt der Verdacht, daß die englische Regierung entgegen aller anders lautenden Beteuerungen in Wirklichkeit kein Interesse mehr daran hat, die Polen zum Einlenken zu bewegen, und daß sie auf Zeit spielt bis Hitler aufgibt oder einen Krieg auslöst. Die Empfehlung Hendersons, den normalen diplomatischen Weg zu beschreiten, klingt nach allem anderen, nur nicht nach englischem Bemühen um eine schnelle Lösung. Von Ribbentrop muß fürchten, daß der „normale Weg“ viel Zeit kosten und wieder am Nein der Polen enden wird. Der deutsche Minister reagiert verärgert. Statt daß er den Versuch wagt, Henderson mit Hitlers 16-Punkte-Vorschlag zu überzeugen, verliest er den Hitler-Vorschlag so schnell, daß Henderson nicht alles verstehen und behalten kann. Zum Schluß sagt von Ribbentrop, die Offerte sei nun – da kein Pole in Berlin erschienen sei – überholt und weigert sich, sie schriftlich auszuhändigen. Die britische Vermittlung – soweit sie eine war – ist damit erst einmal gescheitert.

Henderson verläßt das Auswärtige Amt und eilt, um nichts unversucht zu lassen, in die polnische Botschaft. Er informiert Lipski von dem, was er von Hitlers 16

Punkten aus dem Gespräch mit Ribbentrop behalten hat, daß Deutschland lediglich die Abtretung Danzigs und eine Volksabstimmung im Korridor vorsähen, und daß die Vorschläge insgesamt nicht unvernünftig seien.357 Angesichts der äußerst kritischen Lage – so drängt Henderson in aller Schärfe – solle Lipski unverzüglich Außenminister von Ribbentrop anrufen und bitten, daß man ihm die neuen deutschen Vorschläge aushändigt. Lipski mauert und erklärt, daß er dies ohne Rücksprache mit Warschau nicht tun könne. Henderson beharrt auf seinem Rat und wird persönlich:

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356 IMT-Verhandlungen, Band X, Seite 311

357 Henderson, Seite 273

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„Sie haben vier Monate lang den Mund nicht aufgetan. Das wird man Ihnen vorwerfen, wenn es zum Kriege kommt.“ 358

Lipski verspricht nun wenigstens, mit seiner Regierung zu telefonieren.

Zur Zeit des mißglückten Ribbentrop-Henderson-Gesprächs – ebenfalls kurz nach Mitternacht – kehrt Dahlems aus London zurück und fährt direkt zu Göring, um ihm zu berichten. Dahlems beurteilt seine Londoner Mission ganz optimistisch. Er vergißt nicht, Englands Wunsch nach direkten deutsch-polnischen Gesprächen zu erwähnen. Görings Neuigkeit für Dahlems sind Hitlers 16

Punkte. Sein Kommentar, nachdem er sie verlesen hat:

„Hitler hat in seinem Wunsch, mit England zu einem Übereinkommen zu gelangen, ein Angebot an Polen ausgearbeitet, das ein großes Entgegenkommen von deutscher Seite bedeutet, das in seiner offensichtlich demokratischen, gerechten und praktisch durchfuhrbaren Art großes Aufsehen erregen muß und das sowohl von Polen als auch von England akzeptiert werden kann.“359

Beide Männer, Göring und Dahlems, sind sich bei dem Gespräch einig, in ihrem Ringen um den Frieden nahe am Erfolg zu sein. Dahlems will nun wissen, was bei dem Treffen Ribbentrops mit Henderson herausgekommen ist und ruft von Görings Telefon aus in der Botschaft an. Ogilvie-Forbes360 informiert ihn vom Desaster des Gesprächs.

Es ist jetzt 2 Uhr morgens. Der Marschall und der Schwede versuchen noch zu retten, was zu retten ist. Göring ermächtigt Dahlems, Ogilvie-Forbes sofort den 16-Punkte-Vorschlag Hitlers telefonisch zu diktieren. Damit soll Hitlers Angebot an Polen doch noch zu Henderson gelangen. Unmittelbar danach informiert Göring Hitler von Ribbentrops verpatzter Notenübergabe. Hitler spricht dem Marschall für dessen schnelles Eingreifen seine Anerkennung aus.361 Ogilvie-Forbes kann den Hitler-Vorschlag nicht sofort an Botschafter Henderson wei-terleiten, weil der sich noch in der polnischen Botschaft aufhält. Er legt die im Telefondiktat niedergeschriebenen 16-Punkte auf Hendersons Schreibtisch und geht zu Bett. Um 9 Uhr findet der Botschafter das Schreiben und kennt nun den vollen Text des Hitler-Angebots. Zeitgleich schickt Göring Dahlerus mit einer Kopie des Textes zu Henderson, damit er sicher ist, daß der Botschafter den richtigen Text in Händen hat. Der nutzt das Erscheinen des schwedischen Vermittlers, ihn zu bitten, den Hitler-Vorschlag so schnell wie möglich in Ogilvie-Forbes' Begleitung zu Lipski in die polnische Botschaft zu überbringen. Um 11

Uhr treffen die beiden Emissäre bei Lipski ein. Die Szene, die nun folgt, hat etwas gespenstisch Unwirkliches.362 Die Botschaft ist so gut wie leergeräumt.

358 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 575

359 Dahlerus, Seite 105

360 Geschäftsträger in der britischen Botschaft während der Abwesenheit des Botschafters 361 Rassinier, Seite 294

362 Der folgende Ablauf ist von Dahlerus beschrieben. Siehe Dahlerus, Seite 110, und IMT-Dokumente, Band IX, Seite 521

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Die Umzugskisten stehen in der Halle aufgereiht. Das Botschaftspersonal ist damit beschäftigt, die Abreise vorzubereiten. Dahlems liest Lipski in dessen fast leerem Zimmer Hitlers Vorschlag vor, der ja an die polnische Regierung gerichtet ist. Lipski unterbricht nach kurzem Zuhören und erklärt, den Inhalt nicht zu verstehen, und das, obwohl er fließend Deutsch spricht. Der Schwede verläßt den Raum, um eine Abschrift der Hitler-Note zu fertigen und zu übergeben.

Derweil eröffnet Lipski dem zurückgebliebenen Ogilvie-Forbes, daß er

„keinerlei Anlaß habe, sich für Noten oder Angebote von deutscher Seite zu interessieren. Er kenne die Lage in Deutschland. ...Er sei überzeugt, daß hier im Falle eines Krieges Unruhen ausbrechen werden und daß die polnischen Truppen gegen Berlin marschieren werden.“ 363

Dahlems kommt zurück und händigt Lipski den Hitler-Vorschlag aus. Inzwischen ist es kurz vor 12 Uhr mittags. Beide Emissäre kehren mit Eile in die britische Botschaft zurück und berichten Henderson. Dahlems informiert gleich von der Botschaft aus auch das Außenministerium in London über seine merkwürdige Begegnung mit Botschafter Lipski. Er beschwert sich darüber, daß Polen offensichtlich ganz bewußt jede Verhandlungsmöglichkeit zerstört. Lipski habe ihm gesagt, die deutschen Vorschläge seien nicht einmal erwägenswert.