Dahlems ist erregt, weil er erkennt, daß seine Vermittlertätigkeit wahrscheinlich an der Unbeweglichkeit der Polen scheitert. Zum Ende des Berichts betont der Schwede, daß er selbst den deutschen 16-Punkte-Vorschlag für außerordentlich großzügig hält.
In London hält man den Dahlerus-Anruf offensichtlich für ausgesprochen wenig hilfreich. Es folgt postwendend eine Ermahnung von Halifax an Henderson „er möge in Zukunft bitte Personen, die nicht zur englischen Botschaft gehörten, daran hindern, seine Telefonleitung zu benutzen.“364 Diese an sich lächerliche Ermahnung über eine Telefonbenutzung nährt den Verdacht, daß Außenminister Halifax zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Vermittlungsbemühungen mehr wünscht.
Während der vergangenen Stunden ist im Foreign Office wieder ein Bericht des Botschafters in Warschau Kennard eingetroffen.365 Kennard meldet, daß er tags zuvor mit dem polnischen Außenminister Beck gesprochen habe, und daß der ihm eine schriftliche Antwort auf den englischen Vermittlungsvorschlag bis heute mittag versprochen habe. Beck habe sich sehr erleichtert gezeigt, daß sich die britische Regiemng in keiner Weise für die deutschen Forderungen eingesetzt habe. Kennard spricht hier aus, was von Ribbentrop befürchtet und was Göring im Vertrauen auf Englands „faire“ Vermittlung nicht vermutet. Die englische Regiemng krümmt keinen Finger, um in Polen Verständnis für die deutschen Posi-363 Dahlerus, Seite 110, und IMT-Dokumente, Band IX, Seite 521
364 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume VII, Document 589
365 British War Bluebook, Document 93
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tionen anzuregen. England gibt sich nicht die geringste Mühe, den in Versailles selbst geschaffenen Streitpunkt Danzig aus der Welt zu schaffen.
Kurz bevor Dahlems das Außenministerium in London von seiner merkwürdigen Begegnung mit Lipski unterrichtet – etwa 12 Uhr mittags – geht ein Telegramm von dort nach Warschau.366 Außenminister Halifax fordert Botschafter Kennard auf, zusammen mit seinem französischen Kollegen die polnische Regierung zu ersuchen, der deutschen Reichsregierung zu bestätigen, daß sie „das Prinzip direkter deutsch-polnischer Gespräche akzeptiere“. Das ist noch weit entfernt vom Rat, einen zu Gesprächen bevollmächtigten Gesandten nach Berlin zu schicken.
Offensichtlich nur Minuten nach dem Dahlerus-Anruf über das Verhalten Lipskis folgen zwei weitere Weisungen aus London. Henderson in Berlin erhält um etwa 13 Uhr per Telefon den Auftrag, die Reichsregierung davon zu informieren, daß die polnische Regierung nun ihren Botschafter ins Außenministerium schicken werde.367 Und Kennard in Warschau wird um 13.45 Uhr telegraphisch angewiesen368, er möge der polnischen Regierung unverzüglich den Rat geben, ihren Botschafter in Berlin zur Reichsregierung zu entsenden. Lipski solle sich dort bereit erklären, neue deutsche Vorschläge entgegen zu nehmen und nach Warschau zu übermitteln. Warschau könne dann ebenfalls Vorschläge vorlegen.
Auch dieses Telegramm enthält noch keinen Hinweis auf den von Hitler geforderten, zur Aufnahme von Gesprächen bevollmächtigten polnischen Gesandten.
Es wirkt so, als versuchten Chamberlain und Halifax Hitler in diesem Punkt so lange hinzuhalten, bis er schwach wird oder von sich aus mit dem Krieg beginnt.
Henderson begibt sich mit seinem Auftrag sofort ins Außenministerium und informiert Staatssekretär von Weizsäcker von der Neuigkeit aus London. Die Botschaft geht sofort an Hitler weiter, der im Begriff ist, die „Weisung Nr. 1 für die Kriegführung“, das heißt den Befehl zum Angriff gegen Polen mit seiner Unterschrift in Kraft zu setzen. Hitler soll nach dieser Ankündigung aus London die Unterschrift noch einmal verschoben haben.369
Die zweite Anweisung in gleicher Sache, die von Halifax an Kennard, kreuzt sich mit zwei Depeschen aus Warschau nach London und Berlin. In der ersten vom polnischen Außenminister Beck an den englischen Außenminister Halifax erklärt sich die polnische Regierung zu Gesprächen mit der deutschen Reichsregierung bereit.370 Diese Nachricht läuft über Kennard und so braucht sie von etwa 12
Uhr mittags bis 18.30 Uhr abends, ehe sie in London vorliegt.
366 British War Bluebook, Document 94
367 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 509
368 British War Bluebook, Document 95
369 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 510. Der Historiker B.-M. gibt allerdings keinen Quellenhinweis zu diesem Sachverhalt.
370 British War Bluebook, Document 97
499
Die zweite Depesche geht um 12.40 Uhr direkt per Funk von Beck an Lipski in Berlin, wo sie von der deutschen Funkaufklärung mitgeschnitten und entschlüsselt wird. Zu der Depesche liegen heute zwei offiziell dokumentierte Niederschriften vor. In der polnischen wird Lipski angewiesen, Außenminister von Ribbentrop aufzusuchen und ihm mitzuteilen:
„Diese Nacht wurde die polnische Regierung von der britischen von deren Erörterungen mit der deutschen Regierung über die Möglichkeit direkter Verhandlungen zwischen der deutschen und der polnischen Regierung unterrichtet.
Die polnische Regierung wird den Vorschlag der britischen Regierung in günstigem Sinn erwägen und der britischen Regierung in einigen Stunden eine formelle Antwort zu dieser Frage geben.“ 371
In der Niederschrift des Mitschnitts der deutschen Funkaufklärung hat diese Weisung einen Anhang, der da lautet:
„Lassen Sie sich unter keinen Umständen in sachliche Diskussionen ein.
Wenn die Reichsregierung mündliche oder schriftliche Vorschläge macht, müssen Sie erklären, daß Sie keinerlei Vollmacht haben, solche Vorschläge entgegenzunehmen oder zu diskutieren, und daß Sie ausschließlich obige Mitteilung Ihrer Regierung zu übermitteln und erst weitere Instruktionen einzuholen haben.“ 372
Für die Echtheit dieser deutschen Dokumentation spricht, daß sich Lipski streng an diese Zusatzweisung hält, und daß sie Kennard in einem Bericht vom gleichen Tag bestätigt.373
Mit der Vorlage dieser mitgehörten Weisung bei Hitler, Göring und von Ribbentrop platzt die fast letzte Chance für den Frieden. Es ist jetzt 13 Uhr, noch 16
Stunden bis zum festgesetzten Angriffsbeginn der Wehrmacht gegen Polen.
Göring und Dahlems beraten gerade den weiteren Gang der Dinge, als ein Bote die entschlüsselte Lipski-Weisung überbringt.374 Der Marschall schäumt vor Wut.
Er gibt Dahlems ein Exemplar des dechiffrierten Textes. Nach etwa zwei Stunden weiteren Überlegens schlägt der Schwede dem Marschall vor, er möge nun selbst Verhandlungen mit den Briten aufnehmen. Beide Männer sind sich einig, daß Außenminister von Ribbentrop mit seiner Unbeherrschtheit und seiner Bereitschaft, es auf einen Krieg mit Polen ankommen zu lassen, nicht der rechte Mann ist. Beide wissen, daß mit den Polen nun keine so schnelle Verständigung mehr möglich ist, daß sie die Wehrmacht stoppen könnte.
Göring fahrt zu Hitler, um sich neue Gespräche mit der englischen Regierung genehmigen zu lassen. Der „Führer“ ist mehr als skeptisch, doch er akzeptiert die Idee des Marschalls. Er billigt sofortige Gespräche Görings mit Henderson und 371 Polnisches Weißbuch, Dokument 110
372 Dahlems, Seite 112
373 British War Bluebook, Document 96