374 Die folgenden Ereignisse sind dem Bericht von Dahlems entnommen. Siehe Dahlems, Seiten 111 f 500
den Vorschlag, England für Polen mitverhandeln zu lassen. Hitler weiß, daß ihn das nun sichere Ausbleiben eines polnischen Verhandlungsführers sonst zwingen würde, Danzig und die deutsche Minderheit in Polen aufzugeben oder Polen in 14 Stunden anzugreifen. Der Umweg über London ist damit auch seine letzte Chance für eine Verständigung mit England. Hitler ist offensichtlich auch jetzt noch – am Nachmittag vor Kriegsausbruch – bereit, den Polenfeldzug abzublasen. Sonst hätte er Göring in dieser Stunde festgehalten. Die einzige Bedingung, die Hitler mit dem Göring-Henderson-Gespräch verbindet, ist, daß ein Vertreter eines neutralen Staates daran teilnimmt. Das wird dann der Schwede Dahlems sein.
Dahlems eilt derweilen in die englische Botschaft, um dort den Boden zu bereiten. Henderson empfängt ihn freundlich, aber äußert sofort den Verdacht, daß die Deutschen nur wünschten, zwischen England und Polen einen Keil zu treiben.
Dahlems zeigt Henderson den entschlüsselten Text der Weisung Becks an Lipski und macht ihm damit deutlich, daß es in dieser hochbrisanten Lage nur noch die Möglichkeit, den Frieden zu erhalten gäbe, wenn Göring – mit Hitlers Billigung – und Henderson zu einer Verständigung über ein Programm für deutsch-englische Verhandlungen kämen. Dahlems schreibt zu der Begegnung:
„Ich bin überzeugt, daß Henderson, obwohl er mir aufmerksam zuhörte, innerlich die ganze Zeit der bestimmten Auffassung war, das Ganze sei ein Intrigenspiel, ein Versuch, Polen und England zu trennen, um Deutschland Gelegenheit zu geben, Polen ungestört anzugreifen.“ 375
Um 16.30 Uhr kommt die Konferenz mit Henderson, Göring, Dahlems und Ogilvie-Forbes zustande. Göring empfängt Henderson besonders herzlich. Beide bemühen sich offensichtlich, eine günstige Atmosphäre für das anstehende Gespräch zu schaffen. Als man zum Thema kommt, schlägt der deutsche Marschall dem englischen Botschafter vor, Verhandlungen zwischen Deutschland und Großbritannien einzuleiten, bei denen letzteres auch für Polen mitverhandeln sollte. Henderson bleibt reserviert. Er glaubt nicht, daß der Vorschlag Görings zu einer Lösung führt und will ihm deshalb auch nicht folgen.376 Göring setzt nach und legt dem Engländer das entschlüsselte Chiffretelegramm von Beck an Lipski als Beweis vor, daß Deutschland unter den gegebenen Bedingungen schlecht zu einer Regelung mit Polen kommen könne. Göring kann dabei nicht ahnen, daß die englische Regierung und Kennard vor Ort in Warschau die polnische Blocka-dehaltung immer noch bestärken. Henderson erklärt sich daraufhin bereit, seiner Regierung den neuen deutschen Vorschlag zu übermitteln. Auch Henderson versucht, ein Anliegen in der Besprechung anzubringen. Er bittet Marschall Göring, die für den gleichen Abend angekündigte Veröffentlichung der 16 Punkte Hitlers über Rundfunk zu verhindern. Henderson – so sein Argument – befürchtet, daß damit die letzte schwache Hoffnung auf ein Zustandekommen deutsch-polni-375 Dahlems, Seite 119
376 Henderson, Seite 275
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scher Gespräche zerstört würde.377 Das Gespräch der vier Herren endet kurz vor 19 Uhr, ohne daß Göring etwas Definitives erreicht hätte.
Der Wunsch Botschafter Hendersons, die 16 Punkte Hitlers so lange wie möglich vor der Welt geheimzuhalten, liegt auf der gleichen Linie wie Duff Coopers Bitte an die Redaktionen von DAILY MAIL und DAILY TELEGRAPH, den 16-
Punkte Vorschlag Hitlers möglichst negativ zu kommentieren. Der Wunsch zielt offensichtlich auf die Kriegsbereitschaft der Menschen in England, Frankreich und in den USA. Die Beschränkung der deutschen Forderungen auf das Berechtigte und der Vorschlag, die betroffenen Bewohner des Korridors selbst über ihre Zugehörigkeit zu Polen oder Deutschland abstimmen zu lassen, könnte vielen Franzosen, Briten und Amerikanern nicht mehr genügen, um deshalb für die Polen in den Krieg zu ziehen.
Inzwischen, gegen 16 Uhr, sucht Botschafter Lipski um ein Gespräch bei Außenminister von Ribbentrop nach. Der weiß ja seit ein paar Stunden, daß Lipski weder verhandeln noch die deutschen Vorschläge entgegennehmen darf. Um 18.30 Uhr stehen sich die beiden Männer gegenüber.378 Lipski verliest die polnische Erklärung, die von Ribbentrop bereits aus dem entschlüsselten Telegramm aus Warschau kennt. Der Minister fragt daraufhin, ob der Botschafter verhandeln dürfe. Der verneint. Das Gespräch berührt noch den deutsch-englischen Meinungsaustausch der letzten Tage und Hitlers Erwartung, bis zum Abend des 30.
August einen polnischen Verhandlungsbevollmächtigten in Berlin zu sehen.
Dann fragt von Ribbentrop Botschafter Lipski ein zweites Mal, ob er verhandeln dürfe. Als der verneint, ist das Gespräch beendet. Weder von Ribbentrop noch Lipski machen den leisesten Versuch, dem Gegenüber einen Weg zu lassen.
Beide wissen, daß das den Krieg bedeutet.
So sind um 19 Uhr die beiden letzten Versuche gescheitert und im Sand verlaufen, den Angriffsbeginn der Wehrmacht am 1. September zu verhindern. Gescheitert ist das Bemühen, mit Polen Gespräche über Hitlers 16-Punkte-Vorschlag zu beginnen, und im Sand verlaufen ist der Versuch, mit England statt mit Polen zu verhandeln.
Im Pariser Kabinett toben derweilen Richtungskämpfe. Präsident Daladier vertritt die Meinung, Frankreich müsse gegenüber Deutschland unnachgiebig bleiben.379 Hitler werde den Kriegsbeginn politisch im eigenen Land nicht überleben.
Außenminister Bonnet rät, schnellstens mit Deutschland, Italien, England und Polen über alles zu verhandeln, was Krieg auslösen könnte.380 Und der franzö-
sische Botschafter Coulondre in Berlin schreibt tageweise unterschiedlich, mal 377 Henderson, Seite 275
378 Das folgende Gespräch ist vom Chefdolmetscher Dr. Schmidt protokolliert. Siehe ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 476
379 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 518
380 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 514
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scharfmachend an Daladier und mal mäßigend an Bonnet. Am 30. August z.B.
an den Präsidenten:
„Sehr geehrter Herr Präsident!
Die Kraftprobe schlägt zu unseren Gunsten aus. Aus sicherer Quelle erfahre ich, daß Hitler sich seit fünf Tagen abwartend verhält, die Partei-größen schwankend geworden sind und die Berichte von einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung sprechen. ... Nach wie vor müssen wir festbleiben, festbleiben und nochmals festbleiben. ... Wenn ich recht unterrichtet bin, so beansprucht Hitler Danzig und einen Korridor durch den Korridor. Wir müssen ihn durch unsere feste Haltung davon überzeugen, daß er mit den Methoden, die er bisher angewandt hat, gar nichts mehr bekommen wird. ...“ 381
Tags darauf am 31. August berät Coulondre Außenminister Bonnet ganz anders:
„... Die Deutsche Regierung ist nach sicheren Informationen sehr ver-
ärgert darüber, daß sie von Polen keine Antwort erhalten hat. Es steht zu befürchten, daß sie Befehl zum sofortigen Angriff erteilt, wenn sie bis zum Ende des Morgens keine Antwort in Händen hat. ...Es läge ganz im Interesse der polnischen Regierung, unverzüglich nach Berlin mitzuteilen, daß sie die Fühlungnahme gut heiße und Lipski mit sämtlichen notwendigen Instruktionen als Bevollmächtigten zum Verhandeln entsendet. ...“ 382
So stark der Richtungsstreit im Kabinett, so schwach ist Frankreichs Außenwir-kung, als es gilt, die in Versailles eingefädelten Probleme im Konsens mit Polen und dem Deutschen Reich zu lösen.
Ein schon erwähnter Vermittlungsversuch der Franzosen und der Italiener von diesem Tag, dem letzten vor dem Krieg, ist da kaum noch des Beachtens wert.