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Gegen Mittag schlägt Mussolini – wohl auf früheres Drängen der Franzosen –

eine Konferenz vor, die die Schäden von Versailles und alle Streitigkeiten zwischen Italien, England, Frankreich, Polen und Deutschland grundlegend heilen soll.383 Frankreichs Außenminister Bonnet ist der Auffassung, daß dieser Vorschlag erst zwischen Paris und London abgestimmt werden sollte, ehe Hitler eingeladen wird. So entsteht ein Abstimmungsprozeß bis in den späten Abend. Die englische Regierung hält den Vorschlag Mussolinis für eine Falle und rät, ihn nicht brüsk abzulehnen, sondern vorher eine Demobilisierung der Armeen aller Länder zu verlangen.384 Die französische Regierung ist um 22 Uhr soweit, der englischen ihren Entschluß mitzuteilen, daß sie Mussolinis Vorschlag für den Fall zustimmt, daß die deutsch-polnischen Verhandlungen gescheitert seien. London antwortet, daß es seine Entscheidung am nächsten Morgen nach Rom schicken werde. Dann aber rollt die Wehrmacht schon durch Polen. Beide, Briten wie Franzosen, lassen es nun laufen.

381 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 494

382 Bonnet, Seite 281

383 Bonnet, Seiten 285 f

384 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 513

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Um 19 Uhr erscheint der italienische Botschafter Dr. Attolico zur Audienz bei Hitler und trägt ihm das Vermittlungsangebot des „Duce“ an.385 Für Hitler läuft die Zeit. Er kann zu dieser späten Uhrzeit den Anmarsch der deutschen Truppen nicht mehr stoppen. Mit jedem weiteren Tag, den er jetzt hingehalten wird, steigt die Gefahr, daß der Feldzug gegen Polen nicht in Warschau, sondern in Schlamm und Regen stecken bleibt. Die Generalität hat ihn beraten, nicht nach dem 2. September mit einem Feldzug zu beginnen. Das wissen auch die Generale bei den Briten und Franzosen.386 General Gamelin hat – wie schon erwähnt – damit gerechnet, daß ein deutscher Angriff im Herbst und Winter erfolglos stecken bleiben würde. So steht Hitler an diesem Abend nicht mehr vor der Wahl zwischen Verhandeln oder Krieg, sondern nur noch vor der zwischen dem Verzicht auf Danzig und den Schutz der deutschen Minderheit in Polen oder einem Krieg. Er sieht inzwischen, daß die Briten ihm nicht bei den Polen helfen werden, und daß die Polen unter dem Schutz der Briten nicht verhandeln wollen. Hitler lehnt das späte Angebot des „Duce“ dankend ab.

Eine allerletzte Möglichkeit, die Polen, Briten und Franzosen zu einem Überdenken ihrer Positionen zu bewegen, wird an diesem Tag ganz offensichtlich mit Bewußtsein unterlassen. Roosevelt, der seit sieben Tagen weiß, daß Hitler der Sowjetunion Ostpolen als ihr Interessengebiet zugestanden hat, hüllt sich auch jetzt in Schweigen. Es wird dem Präsidenten der USA nicht schwergefallen sein, sich vorzustellen, daß die polnische Regierung mit diesem, seinem Wissen die Rückgliederung des Freistaates Danzig in das Deutsche Reich dem nun sicheren Verlust Ostpolens vorgezogen hätte. Es klingt schon recht makaber, aber am Morgen dieses letzten Tages vor dem Krieg versichert der amerikanische Botschafter in Paris Bullitt seinem polnischen Kollegen Graf Łukasiewicz, er wisse aus verläßlicher Quelle, daß ein möglicherweise existierendes geheimes Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt nur die drei baltischen Staaten betreffe, nicht aber Polen.387

Hitler muß sich am Abend vor dem Kriege eine große Niederlage eingestehen.

Sein Traum vom Vertrag und der Partnerschaft mit England liegt in Scherben.

Für ihn sind es die Polen, deren Unnachgiebigkeit den Weg zur Erfüllung seines Traums versperrt. In seiner Verärgerung über diese persönliche Niederlage versteigt sich Hitler zu einem Satz, der seine Kriegslust zu belegen scheint. Als der italienische Botschafter gegangen ist, wendet sich Hitler dem im Raum verbliebenen Staatssekretär Meißner zu und sagt:

385 ADAP, Serie D, Band VII, Dokument 478

386 Auch der franz. Außenminister Bonnet und der brit. Botschafter Henderson schreiben in ihren Erinnerungen, daß sie damals wußten, daß Hitler den Polenfeldzug aus Witterungsgründen nicht mehr hinausschieben konnte.

387 Bavendamm, Roosevelts Weg zum Krieg, Seite 604, unter Bezug auf den poln. Historiker Jêdrzeje-wicz in seinem Buch Łukasiewicz, Seite 269

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„Im Grunde genommen bin ich heilfroh, daß die Polen mein Angebot nicht angenommen haben. Ich habe es gegen meine innere Überzeugung gemacht, aber wenn die Polen es angenommen hätten, wäre ich daran gebunden gewesen.“ 388

Vielleicht deckt Hitler mit der Bemerkung auf, daß er im Grunde doch schon seit geraumer Zeit den Krieg mit Polen wollte. Vielleicht ist der Ausspruch auch die Schutzbehauptung eines Mannes, dem etwas mißlungen ist, und der dann behauptet, er hätte es gar nicht anders haben wollen. Oder vielleicht ist es der Ausbruch einer inzwischen angestauten Wut gegen die Haltung Polens, die ihm die Heimkehr Danzigs ohne Blutvergießen und eine Partnerschaft mit Großbritannien verdorben hat: also Krieg als Rache für eine außenpolitische Niederlage Hitlers.

Um 21 Uhr gibt der deutsche Rundfunk Hitlers 16-Punkte-Vorschlag bekannt.

Zwischen 21 und 22 Uhr überreicht Staatssekretär von Weizsäcker die schriftlichen Ausfertigungen des Hitler-Vorschlags nacheinander an die Botschafter Englands, Frankreichs, Japans und an die Geschäftsträger der USA und der Sowjetunion.

Spät abends muß sich die englische Regierung noch einmal um die Presse kümmern. Der DAILY TELEGRAPH hat in seiner Abendausgabe über die Vermittlungstätigkeit der Londoner Regierung zwischen Warschau und Berlin berichtet.

Dabei hat die Zeitung auch erwähnt, daß die polnische Regierung nach Eingang des Verhandlungsangebots aus Deutschland die Generalmobilmachung für die Streitkräfte angeordnet hat, statt das Angebot zu honorieren. Die Abendausgabe des DAILY TELEGRAPH wird beschlagnahmt. Ein Nachdruck, der als

Spätausgabe kommt, läßt die Generalmobilmachung in Polen unerwähnt. Nichts in dieser schweren Krise soll Englands Lesern Zweifel kommen lassen.389

Der Kriegsausbruch

Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr früh tritt die Wehrmacht ohne Kriegserklärung zum Angriff gegen Polen an.

General Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht rät Hitler, den Krieg an Polen zu erklären, doch der „Führer“ lehnt das ab.390 Die Gründe Hitlers mögen operativer oder politischer Natur gewesen sein. Der operative liegt in der Überraschung der angegriffenen Polen. Doch das zählt hier wenig, weil die polnischen Streitkräfte bereits mobilisiert und voll aufmarschiert sind, als der 388 Benoist-Méchin, Band 7, Seite 524, der dort Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert-Hindenburg-Hitler, Hamburg 1950, Seite 518 zitiert.

389 Hedin, Seite 60

390 Keitel, Seite 251

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Krieg beginnt. Der politische mag in der Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg liegen. 1914 hat Deutschland, nachdem zuvor Rußland, Frankreich und England ihre Heere und Flotten mobilgemacht hatten, als erstes Land den Krieg erklärt. Das ist dann in Versailles – neben anderem – als Ausweis der deutschen Kriegsschuld im Sinne des Verursacherprinzips gewertet worden. Das geschlagene Deutsche Reich hat 1919 für diese traditionelle und völkerrechtlich korrekte Handlungs-weise einen hohen Preis bezahlen müssen. Im 20. Jahrhundert sind Kriegserklärungen auch durchaus nicht mehr die allgemeine Regel. Japan zum Beispiel eröffnet 1904 den russisch-japanischen Krieg ohne Kriegserklärung gegen Ruß-

land. Polen tut das gleiche 1920 gegenüber der Sowjetunion. Die USA steigen ohne eine Kriegserklärung in den Vietnamkrieg ein. Die NATO-Staaten eröffnen ihre Luftangriffe 1999 gegen Jugoslawien ebenfalls ohne eine Kriegserklärung.

Auch Hitler beginnt den Krieg nach sechs Monaten fruchtloser Gesprächsversuche mit der polnischen Regierung ohne Kriegserklärung.

Am 3. September folgen England und Frankreich ihrer Bündnispflicht und er-klären ihrerseits den Krieg an Deutschland. Fast das gesamte Commonwealth und einige der französischen Kolonien schließen sich am gleichen Tage an. Am 3. September sind es Australien, Burma, Ceylon, Indien, Jordanien, Kambodscha, Laos, Marokko, Neuseeland, Tunesien und Vietnam. Am 6. folgen die Südafrikanische Union und der Irak und am 10. September Kanada. Chamberlain hat damit sein Versprechen von vor einer Woche wahr gemacht. Der Krieg um die Stadt Danzig und den Korridor ist binnen zweier Tage zu einem Weltkrieg ausgedehnt.