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Bevölkerung werden auf Weisung der Franzosen in der Kommission in aller Regel dem zuständigen Völkerbund nicht einmal zugeleitet3. Die Regierung in Paris verlegt gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags 5.000 französische Soldaten in das Saargebiet4. Die deutsche Beamtenschaft wird zum größten Teil ausgewiesen und durch französische ersetzt. Das gleiche passiert mit den deutschen Firmenleitungen in der Industrie und im Bergbau an der Saar. Doch 1935
sind die 15 Jahre Saarstatut zu Ende, und Frankreich muß die 1920 in Versailles festgelegte Volksabstimmung dulden. So ist die Tatsache der Volksabstimmung an der Saar kein Verdienst des Kanzlers Hitler.
In den Monaten vor der Abstimmung tobt ein heftiger Wahlkampf an der Saar, bei dem die französische Verwaltung vor Ort den Heimvorteil besitzt, und das Deutsche Reich dagegen keinen unmittelbaren Zutritt hat. Der Wahlkampf wird von französischer Seite bewußt gegen den Nationalsozialismus und die neuen Mißstände im Deutschen Reich geführt. Die Emotionen schlagen dabei hoch, und die Volksabstimmung droht, zu harten Auseinandersetzungen auszuarten.
Da schlägt der deutsche Regierungschef Hitler der französischen Regierung vor, die Zukunft der Saar durch eine freundschaftliche Vereinbarung zwischen beiden Regierungen zu regeln und auf die Volksabstimmung zu verzichten5.
Sein Vorschlag lautet, das Saargebiet dem Deutschen Reiche wieder anzuschließen und durch einen Wirtschaftsvertrag zu regeln, daß die französische Industrie die saarländischen Bodenschätze, so ausbeuten dürfe wie bisher. Die französische Regierung lehnt den Vorschlag ab. Sie wertet ihn als Hitlers Eingeständnis der schlechten deutschen Chancen bei der Wahl.
Am 13. Januar 1935 wird unter der Aufsicht des Völkerbunds gewählt. 90,8 Prozent der Saarländer votieren für den Anschluß an das Deutsche Reich, 8,8 Prozent für die Selbständigkeit der Saar und 0,4 Prozent für den Anschluß an Frankreich. Diese Wahl außerhalb des deutschen Staatsgebiets hat ohne jeden Zweifel ohne deutsche Manipulationen und Pressionen stattgefunden. Und sie wirkt, dank des Wahlkampfthemas der Franzosen „Nationalsozialismus in Deutschland“ statt einer Entscheidung für Deutschland und gegen Frankreich wie eine breite Zustimmung zum neuen nationalen Sozialismus des deutschen Kanzlers Hitler. So bescheren die Franzosen Hitler einen innenpolitischen Triumph, der stärker nachwirkt als sie ahnen. Für Hitler wird der erste Anschluß nach der Niederlage von 1918 zugleich ein Plebiszit für die „Bewegung“.
Am 1. März 1935 geht die Hoheit über das Saargebiet wieder auf das Deutsche Reich über. Hitler gibt zu diesem Anlaß eine Regierungserklärung vor dem Reichstag ab, in der er feierlich auf den deutschen Anspruch auf Elsaß-Lothringen verzichtet und die durch die Heimkehr der Saar neugezogene Grenze zwi-3 Nitti, Seite 115
4 Nach Versailler Vertrag, Teil III, Artikel 50, Anlage, § 30 war das Saargebiet frei von Militär zu halten
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Abb. 2: Wahlkampf vor der Saarabstimmung
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schen Frankreich und Deutschland als endgültig anerkennt. Frankreich hat damit ein erstes Stück seiner Versailler Kriegsbeute auf legalem Weg verloren. Und Hitler hat – fast unverdienter Maßen – den ersten innenpolitischen Erfolg durch einen Anschluß eingefahren.
Die deutsche Wehrhoheit im Rheinland
Die nächste „Fessel von Versailles“, die Hitler abstreift, ist die Entmilitarisierung des deutschen Rheinlands. Mit dem Vertrag von Versailles war Deutschland auferlegt, das Rheinland mit der Pfalz links des Rheins und eine 50
Kilometer tiefe Zone rechts des Rheins von der Schweiz bis zu den
Niederlanden von eigenen Truppen und Befestigungen freizuhalten.
1921 und 1923 nutzen Frankreich und Belgien trotz des inzwischen geschlossenen „Friedens“ diese ungeschützte Grenze, um Deutschland für nicht geleistete Reparationen zu „bestrafen“ und erst Düsseldorf und Duisburg und dann das ganze Ruhrgebiet mit fünf Heeresdivisionen zu besetzen. Dennoch bestätigt die deutsche Reichsregierung 1925 im Pakt von Locarno6 noch einmal diese Entmilitarisierung der deutschen Grenzregion in Richtung Frankreich, um sich damit die deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund und den Abzug der französischen Besatzungstruppen aus der „Kölner Zone“ zu erkaufen7. Gleichzeitig garantieren sich die Staaten Frankreich, Deutschland und Belgien gegenseitig den Verlauf ihrer gemeinsamen Grenzen, und sie vereinbaren, in Zukunft „in keinem Falle zu einem Angriff oder zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander zu schreiten“8. Die von Locarno erhoffte Entspannung zwischen Frankreich und Deutschland stellt sich jedoch nicht ein. Frankreich erwartet, daß Deutschland sich in Dankbarkeit für die Aufnahme in den Völkerbund fortan strikt an „Versailles“ hält. Ansonsten blockiert es die Gleichberechtigung der Deutschen im Völkerbund, so gut es kann. Deutschland dagegen erwartet nach dem end-gültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen französisches Entgegenkommen, besonders soweit es die Lasten von Versailles anbelangt. So bleibt Locarno nur ein kurzer Blüten-traum der deutsch-französischen Annäherung zwischen beiden Kriegen. Dies als erster Teil der Vorgeschichte zur deutschen Rheinlandbesetzung von 1936.
Der zweite Teil beginnt mit einem Französisch-Russischen Vertrag. 1935 ersetzen Frankreich und die Sowjetunion einen auslaufenden Nichtangriffspakt von 1932 durch einen neuen Freundschafts- und Beistandspakt9. Zu diesem Pakt 6 Sicherheitspakt von Locarno vom 16. Oktober 1925, zwischen D, UK, F, B, IT, PO und CSR
geschlossen. Auch Rhein-Pakt genannt.
7 Die Zone Jülich-Düren-Köln-Bonn sollte nach Artikel 429 des Versailler Vertrags im Mai 1924 von den Besatzungstruppen geräumt werden. Das war nicht geschehen.
8 Artikel 2 des Vertrages von Locarno
9 Franz.-Sowjet. Vertrag vom 2. Mai 1935
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Karte 4: Das entmilitarisierte Rheinland
gehört allerdings ein Zusatzprotokoll, in dem sich die Sowjetunion und Frankreich ihre Waffenhilfe auch für den Fall zusagen, daß eines der beiden Länder von einem Drittland angegriffen wird, und – das ist das Besondere – das auch, wenn der Völkerbund eine solche Waffenhilfe nicht empfiehlt10. Damit behalten sich die Sowjetunion und Frankreich vor, bei einem Streit mit dritten Staaten in eigener Machtvollkommenheit zu entscheiden, wer der Aggressor ist. Da die inzwischen wieder gut aufgerüstete Sowjetunion nicht damit rechnen kann, von den kleinen Baltenstaaten oder von den militärisch weit unterlegenen Polen oder 10 Benoist-Méchin, Band 3, Seite 278. Dieses Zusatzprotokoll ist im Vertrags-Ploetz ausgelassen.
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Rumänien angegriffen zu werden, macht der Pakt nur in einem Krieg mit Deutschland einen Sinn. Frankreich hatte sich jedoch in Locarno mit Vertrag verpflichtet, keine militärischen Operationen gegen Deutschland mehr zu führen, es sei denn zur eigenen Verteidigung oder aufgrund früherer Verpflichtungen, die Frankreich gegenüber den Polen und den Tschechen eingegangen war. Ein französisches Versprechen, der Sowjetunion im Falle einer deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung mit Waffenhilfe beizustehen, ist also ein Bruch des Paktes von Locarno. Und in Locarno – und das ist hier von Bedeutung – wird deutscherseits die schon erwähnte Entmilitarisierung des deutschen Rheinlands zugesagt, die Hitler nun im Gegenzuge kündigt.