„Es ist offensichtlich, daß der Einmarsch der deutschen Truppen in das Rheinland eine Verletzung des Versailler Friedensvertrages darstellt. Dennoch stellt diese Aktion keine Bedrohung des Friedens dar und erfordert nicht den unmittelbaren Gegenschlag, der in gewissen Fällen im Locarno-Pakt vorgesehen ist. Zweifellos schwächt die Wiederbesetzung des Rheinlandes die Macht Frankreichs, aber sie schwächt in keiner Weise seine Sicherheit.“ 17
Nach sieben Tagen der Beratung erklärt der Völkerbund, daß Deutschland den Artikel 43 des Versailler Friedensvertrags verletzt hat. Doch er verlangt weder 15 Benoist-Méchin, Band 3, Seite 294
16 MGFA Dt. Reich und 2. Weltkrieg, Band 1, Seite 425
17 Benoist-Méchin, Band 3, Seite 300
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den Rückzug der ins Rheinland einmarschierten deutschen Truppen noch Sanktionen.
Die Konsequenzen dieses Hitler-Handstreichs sind allerdings auf eine andere Weise folgenschwer. Adolf Hitler hat mit seinem Rheinland-Schachzug gegen allen Rat der Diplomaten und Generale Recht behalten. Das trübt sein Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der berufenen Berater und hebt sein eigenes Selbstvertrauen, das sich später nach weiteren Erfolgen übersteigert. Er beginnt auch, die Tatkraft ausländischer Regierungen zu unterschätzen. Bei den deutschen Generalen ist die Wirkung genau umgekehrt. Ihr Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit wird brüchig und sie beginnen, Hitler in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu viel Kredit zu geben.
Der Anschluß Österreichs
Die bessere Überschrift wäre sicher die „Wiedervereinigung“ mit Österreich gewesen, doch dieser Vorgang ist nun einmal mit dem Wort „Anschluß“ in die Geschichte eingegangen. Die vergeblichen Versuche der Parlamente und der Regierungen des Deutschen Reichs und der Republik Österreich von 1919, beide Länder nach fast einem Jahrtausend gemeinsamer Geschichte und 54 Jahren Trennung wieder zu einem Staate zu vereinigen, haben weniger Spuren in der Geschichtsschreibung hinterlassen, als der von beiden Ländern 1938 mit Erfolg vollzogenen Anschluß.
Die Vorgeschichte
Die staatliche Gemeinsamkeit der deutschen Länder einschließlich derer, die spä-
ter den Staat Österreich bilden, beginnt im Jahr 911 mit der Wahl Konrad I. zum König des Ostfrankenreiches, für das sich bald der Name „Reich der Deutschen“ und später „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ durchsetzt. Im Jahr 1273 geht die Krone dieses Heiligen Römischen Reiches erstmals an einen Fürsten aus dem Hause Habsburg, an Rudolf I., Herzog von Österreich, Herzog der Steiermark, Kärntens und der Krain und Graf von Tirol. Nach ihm tragen Fürsten aus den Häusern Nassau, Bayern und Luxemburg die Krone des deutschen Kö-
nigs und Kaisers, ehe diese Würde 1438 wieder an einen Fürsten aus dem Hause Habsburg übergeht, wo sie dann in ununterbrochener Herrscherfolge bis 1806
verbleibt. So sind die Landesteile des Hauses Habsburg fast ein Jahrtausend lang ein integraler Teil des Deutschen Reichs und die Fürsten Habsburgs während der letzten 368 Jahre zugleich die Könige und Kaiser Deutschlands.
1806 löst Kaiser Franz II. aus dem Hause Habsburg nach den französischen Angriffen auf das Deutsche Reich und nach der Bildung eines „Rheinbunds“ deutscher Fürstentümer unter Frankreichs Oberherrschaft mit Dekret das erste Deut-91
sche Reich auf. Zum gleichen Zeitpunkt vereinigt der nun abgedankte Kaiser Franz II. seine ererbten Länder Österreich, Böhmen, Mähren, Tirol die Steiermark, Krain, Kärnten und andere zu einem Kaiserreich Österreich, über das er fortan als Franz I. herrscht. Der eigene Weg des Hauses Habsburg neben seiner Zugehörigkeit zu Deutschland beginnt jedoch schon ein paar Jahrhunderte zuvor. Durch Heiraten, Erbschaften, Käufe und Verträge kommen viele Länder außerhalb des Deutschen Reiches für dauernd oder für begrenzte Zeit unter Habsburgs Herrschaft, so Ungarn, Kroatien, Galizien, die Bukowina, das Banat, die Toskana, das Herzogtum Mailand, ein Teil Serbiens und zum Schluß im Jahre 1908 auch noch Bosnien und Herzegowina.
Karte 6: Habsburgische Lande vor 1914
1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Vorherrschaft und der Auflösung der französischen Königreiche in Europa, gründen 36 deutsche Fürsten und vier reichsfreie Städte an Stelle des untergegangenen Deutschen Reichs den Deutschen Bund. Und wieder ist es der Chef des Hauses Habsburg, der den Vorsitz im Deutschen Bund innehat, der Kaiser von Österreich.
Gut drei Jahrzehnte später wird erneut versucht, Deutschland zu einem festen Staatsgebilde zu vereinen. Die Verfassunggebende Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt ruft 1849 ein „einiges und unteilbares Reich“ aus, doch an der Frage, was zum Reich gehören soll, scheiden sich die Geister. Die Nationalversammlung fordert die österreichische Regierung auf, mit ihren deutschen Ländern Teil des neuen Deutschen Reichs zu werden und zugleich auf die Hoheitsrechte in allen nicht deutschen Ländern zu verzichten. Die Nationalver-92
sammlung will ein Deutschland ohne fremde Völker unter deutscher Herrschaft gründen. So steht Österreich vor der Wahl, erste Macht in einem neuen Deutschen Reich zu werden, dafür aber auf seine nicht deutschen Fürstentümer zu verzichten, oder erste Macht im eigenen Imperium im Donauraum zu bleiben.
Österreich will sich nicht dazu entscheiden, ein ausschließlich deutscher Staat zu werden. So bleibt es vorerst beim Deutschen Bund von 1815, und Österreich spielt weiter seine Doppelrolle als Teil des Deutschen Bundes und als Vielvölkerstaat im Donauraum.
Es folgen 17 Jahre, in denen sich die politischen Gewichte im Deutschen Bund verschieben. Preußen beginnt, die deutschen Länder durch Diplomatie und Kriege zu vereinen. Habsburg verliert derweil an Kraft und Einfluß, unter anderem durch einen 1859 verlorenen Krieg mit Frankreich. 1866 kommt es im Streit um die Verwaltung Schleswig-Holsteins zum deutschen Bruderkrieg, in dem der Kaiser von Österreich als Vorsitzender des Deutschen Bundes ein letztes Mal die Reichsgewalt vertritt. Er ruft das deutsche Bundesheer gegen die Preußen zu den Waffen. Der Kaiser fuhrt in diesem Krieg noch einmal die Mehrheit aller deutschen Bundesstaaten an, die Königreiche Hannover, Sachsen, Württemberg und Bayern nebst einer Reihe weiterer kleinerer Fürstentümer. Auf der Seite Preußens stehen lediglich das Fürstentum Lippe und das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha, doch in der Schlacht von Königgrätz in Böhmen wird die österreichische Armee vernichtend von der preußischen geschlagen. Damit ist Habsburgs Vorherrschaft im Deutschen Reich beendet. Das Ziel der preußischen Politik in diesem Kriege ist, Österreich aus dem Deutschen Bund zu drängen, um ohne den Vielvölkerstaat von Wien den Rest der deutschen Länder zu einem neuen Deutschen Reich zu einen. So verzichtet Preußen nach dem Sieg von Königgrätz darauf, Habsburg-Österreich zu zerschlagen, aber es löst den Deutschen Bund auf und setzt die Deutsch-Österreicher mit ihren 16 nicht deutschen Völkern vor die deutsche Tür. Damit wird das deutsch-deutsche Band zwischen Deutsch-
Österreich und den anderen deutschen Ländern nach 955jähriger Gemeinsamkeit durchtrennt.
In den folgenden 48 Jahren vereinigen sich die anderen deutschen Länder unter Preußens Führung zum zweiten deutschen Kaiserreich und entwickeln ein neues deutsch-preußisches Bewußtsein. Das zweite deutsche Kaiserreich und das österreichische Kaiserreich gehen nun für weniger als ein halbes Jahrhundert ihre eigenen Wege, ehe sie im Ersten Weltkrieg als Bundesgenossen wieder zueinan-derfinden. Diese 48 Jahre Trennung haben einen tiefen Einfluß auf das Ge-schichts- und Selbstbewußtsein im kaiserlichen Deutschland. Die habsburger Wurzeln der eigenen Nation geraten in Preußen-Deutschland ins Vergessen. Diese Zeit der deutschen Trennung hat in dieser Hinsicht Ähnlichkeit mit der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die realen politischen Verhältnisse prägen das Bewußtsein und überlagern das Empfinden, zueinander zu gehören.