Und wie 1990 beim Niedergang der DDR, so ist es 1918 die Niederlage beider 93
deutschen Kaiserreiche, die die Deutschen wieder zueinander bringt. Habsburgs Großreich wird zerschlagen. 41 Millionen ehemalige habsburger Untertanen nicht deutscher Muttersprache gründen ihre eigenen Staaten oder gehen gezwungenermaßen in andere Staaten auf. Und 7 Millionen Deutsch-Österreicher verbleiben mit dem territorialen Rest, den die Siegermächte auf der Konferenz von Saint-Germain von Alt-Habsburg übriglassen, in der neuen Republik Österreich.
Karte 7: Österreich nach 1919
Die deutsch-österreichische Wiederannäherung
Die 54 Jahre der deutsch-deutschen Trennung seit 1866 haben das Empfinden, zum selben Volke zu gehören, in Deutschland und in Österreich genausowenig sterben lassen, wie die 45 Jahre deutscher Teilung bei den Deutschen in West-und Mitteldeutschland nach 1945.
1919 übernehmen sozialdemokratische Regierungen in den neuen Republiken Deutschland und Österreich die Geschicke ihrer Teilnationen. In Österreich fassen die mit der Ausarbeitung einer neuen Staatsverfassung beauftragten Parlamentarier bei ihrer ersten Arbeitssitzung am 12. November 1918 einstimmig den Beschluß:
94
„Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt. Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.“ 18
Gut eine Woche später, am 21. November erhebt die österreichische Nationalversammlung außerdem den Anspruch, alle Deutschen aus dem alten Habsburg zu vertreten:
„Der deutsch-österreichische Staat beansprucht Gebietsgewalt über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländem.“ 19
Im neuen Deutschen Reich hegt die Politik die gleichen Wünsche. Am 6. Februar 1919 schließt der Abgeordnete Scheidemann (SPD) seine Eröffnungsrede zur konstituierenden Sitzung der Weimarer Nationalversammlung mit einen Appell an
„die Brüder in Böhmen und Österreich“. Er beendet seine Rede mit den Worten:
„Möge die Zeit nahe sein, da unsere österreichischen Brüder ihren Platz in der großen deutschen Volksgemeinschaft wieder einnehmen werden.“ Am 2. März 1919 versammelt sich in Wien die erste Nachkriegsnationalver-sammlung zur Eröffnungssitzung. Fast einstimmig – mit Ausnahme einer Hand-voll Monarchisten – beschließen die Abgeordneten aus allen vertretenen Parteien, Österreich als Bestandteil Deutschlands anzusehen. Damit wird der Beschluß der Verfassunggebenden Versammlung vom 12. November 1918, der Deutsch-
Österreich zu einem Teil der Deutschen Republik erklärt, Gesetz. Noch am gleichen Tage, dem 2. März, unterzeichnen der österreichische Abgeordnete Otto Bauer und der deutsche Außenminister Graf von Brockdorff-Rantzau einen Staatsvertrag zum Anschluß Österreichs an die neue Deutsche Republik. Doch die Siegermächte schieben dieser Art von Selbstbestimmungsrecht der Völker gleich den Riegel vor. Als die österreichische Friedensdelegation in Saint-Germain eintrifft, wird ihr sofort eröffnet, daß es der Republik Österreich verboten ist, sich Deutschland anzuschließen, und daß das besiegte Österreich sich nicht
„Deutsch-Österreich“ nennen darf. Der Delegationsleiter aus Wien, Staatskanzler Dr. Renner, erhebt Protest, verweist auf Wilsons 14 Punkte und beruft sich auf das von den Siegern selbst proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Er erhält die Antwort, daß dieses Recht keinesfalls auch für die Besiegten gelte.
Die Siegermächte hätten so entschieden.
Die österreichische Delegation kann und darf den Vertrag von Saint-Germain genausowenig mit verhandeln, wie die Deutschen den von Versailles. Es ist lediglich der Austausch von Noten zugelassen. Die fünf Siegermächte USA, Frankreich, England, Japan und Italien, die in Saint-Germain ihr Urteil über Österreich sprechen, legen mit Artikel 88 ihrer Bedingungen für den Frieden fest, daß Österreich auf Dauer unabhängig bleiben muß. Noch während die Sieger in Saint-Germain zusammensitzen, versucht die österreichische Regierung, ihnen und dem 18 IMT. Verhandlungen, Band XV, Seite 666
19 IMT. Verhandlungen, Band XV, Seite 666
95
Völkerbund zu zeigen, wie stark der Wille der Bevölkerung ist, dem Deutschen Reiche20 beizutreten. Sie setzt drei regionale Volksabstimmungen in Tirol, in der Provinz Salzburg und in Oberösterreich an. Die Tiroler Volksbefragung bringt 143.302 Stimmen für den Anschluß und 1.805 dagegen21. Das ist ein Votum von 98,7% für die Vereinigung Österreichs mit Deutschland. Die Abstimmungen in Oberösterreich und in Salzburg werden von den Siegern unterbunden. Trotzdem gelingt es einer Bürgerinitiative – wenn auch erst 1921 – in Salzburg die Volksbefragung nachzuholen. Das Ergebnis läßt mit 98.546 Stimmen pro und 877
contra, d.h. mit 99,1% für den Anschluß keine Fragen offen.
Vier Tage bevor die österreichische Delegation in Saint-Germain das Siegerurteil unterzeichnen muß, am 6. September 1919, verkündet Staatskanzler Dr. Renner noch einmal in der Wiener Nationalversammlung:
„Deutsch-Österreich wird niemals darauf verzichten, die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich als das Ziel seiner friedlichen Politik zu betrachten.“
Das ist ein letztes Aufbegehren. Die nackte Macht des Hungers hat auch Österreich genau wie Deutschland gezwungen nachzugeben. England hat vom Waffenstillstand an bis in den Juli 1919 die Lebensmittelzufuhr nach Deutschland und Österreich durch eine Seeblockade unterbunden, um die Besiegten in Versailles und Saint-Germain zur Unterschrift zu zwingen. In beiden Ländern sind inzwischen fast eine Millionen Menschen den Hungertod gestorben, besonders viele Kinder. Österreich und Deutschland können nun keine Wiederaufnahme der Blockade durch Unterschriftsverweigerung mehr riskieren, denn Großbritannien hat sie angedroht.
Am 10. September muß die österreichische Regierung den Vertrag von Saint-Germain akzeptieren und ihn unterschreiben. Am 21. Oktober muß sie auf Druck der Sieger den Satz aus der Verfassung streichen „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“ – Am 18. Juli 1920 ratifiziert das Parlament in Wien den Vertrag von Saint-Germain, und Österreich steht gegen den Willen der großen Mehrheit seiner Bürger wieder vor der deutschen Tür. Ungeachtet dessen nehmen alle österreichischen Parteien – ausgenommen Legalisten (Monarchisten) und Kommunisten – den späteren Anschluß ihres Landes als Ziel in die Parteiprogramme auf. Das trifft sowohl auf die Sozialdemokraten, auf die Deutsch-Nationalen, die National-Liberale Bauernpartei als auch auf die Christlich-Sozialen zu, die ab 1934, zur Diktatur-Partei geworden, den Anschluß an das Reich bekämpfen.
Im Deutschen Reich denkt und handelt man in der Anschlußfrage nicht anders als in Tirol, in Salzburg oder Wien. Schon in Weimar, auf der ersten Sitzung der 20 Bernhardt, Seite 45
21 IMT Verhandlungen, Band XV, Seite 667
96
Deutschen Nationalversammlung am 6. Februar 1919, erklärt der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert zu dieser Frage:
„Deutsch-Österreich muß mit dem Mutterland für alle Zeiten vereinigt werden. ... Unsere Stammes- und Schicksalsgenossen dürfen versichert sein, daß wir sie im neuen Reich der deutschen Nation mit offenen Armen und Herzen willkommen heißen. Sie gehören zu uns und wir gehören zu ihnen.“ 22