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Meine zweite Vorbemerkung gilt der Literatur- und Quellenlage. Ich habe in diesem Buch fast nichts verwertet, das nicht schon irgendwo beschrieben worden wäre. Alle Quellen sind jedermann in öffentlichen Bibliotheken und Archiven oder über das Internet zugänglich, und trotzdem ist vieles nicht bekannt. Je nach Auswahl von Literatur und Quellen entstehen allerdings recht unterschiedliche Bilder der Geschichte. Die in Deutschland verbreitetste Geschichtsschreibung konzentriert sich auf die deutsche Vergangenheit und wählt danach die Quellen aus. Doch diese Konzentration verengt den Blick zu der bereits erwähnten Tunnelperspektive, und sie läuft Gefahr, die

internationalen Gebräuche und Strömungen der beschriebenen Epochen

auszublenden. Sie zerstört die Zusammenhänge, in denen die Vergangenheit der Deutschen stattgefunden hat. Das gilt in besonderem Maße für die

Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Man kann eben keine Reportage über ein Autorennen machen, indem man nur die Wagen von Ferrari schildert. Zum Rennen wird das Ganze erst durch alle Wagen auf der Piste.

Ausländische Literatur ist dennoch kein Quell der absoluten Wahrheit. Engländer, Franzosen, Amerikaner und Sowjets neigen, wie andere Nationen, zur Selbstdarstellung und zur Rechtfertigung des eigenen Handelns. Trotzdem waren sie für mich bei meiner Arbeit gute Fährtenleger. Das Problem, vor dem ich bei 11

der Spurensuche stand, war, daß die meisten Quellen eine Absicht transportieren.

Da sind die Zeitzeugen, deren Berichte vor 1939 anderes melden als ihre Memoiren nach 1945. Da sind die offiziellen Dokumentenbände, die „heiße Ware“ unterschlagen, zum Beispiel die „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik“ (ADAP), die ich zunächst für authentisch hielt, weil sie in den 50er Jahren als die amtliche Dokumentation des Auswärtigen Amts in Bonn veröffentlicht worden sind. Erst später fiel mir auf, daß diese Nachkriegsausgabe der Akten des deutschen Auswärtigen Amts von amerikanischen, englischen und

französischen Wissenschaftlern und Archivaren herausgegeben worden ist. Es darf nicht wundern, daß die Akten dabei zu Gunsten der Sieger ausgewählt und auch „gewaschen“ worden sind. So fehlt in diesem Nachdruck zum Beispiel die erste offizielle Drohung, wegen Danzig Krieg zu führen. Sie wurde im März 1939 vom polnischen Botschafter in Berlin ausgesprochen, noch ehe Hitler der Wehrmachtsführung den Befehl gab, einen Krieg gegen Polen vorzubereiten. Es gibt jedoch die Veröffentlichung der selben Dokumente aus dem Jahre 1939

(AA 1939), die diese Drohung noch enthält1. Aber auch diese Vorkriegs-Doku-mentensammlung ist nicht ohne Haken. Sie läßt, genauso wie das „British War Bluebook“ und die vergleichbaren Dokumentationen anderer Nationen, viele Briefe und Protokolle unerwähnt, wenn sie die entsprechenden Regierungen belasten. So fand ich in den Memoiren und Dokumenten Auslassungen, Überar-beitungen, Fälschungen und pro-domo-Interpretationen.

An der deutschen Literatur war für mich verwirrend, daß die erste Geschichtsschreibung nach dem Kriege unter gesetzlichen Auflagen erarbeitet worden ist, die der Forschung Grenzen auferlegten. Im Überleitungsvertrag von 1954, Artikel 7 (1) ist verbindlich festgelegt gewesen, daß „deutsche Gerichte und Behörden ... alle Urteile und Entscheidungen“ aus den Nürnberger Prozessen „in jeder Hinsicht als rechtskräftig und rechtswirksam ... zu behandeln haben.“ Zu den Entscheidungen des Gerichts gehörten die „Feststellungen“ zum Ablauf der Ereignisse, die zum Kriege führten. Sie stehen in den Urteilsbegründungen. Die Urteile konnten nach Maßgabe des Gerichts auch ohne Beweiserhebung oder gegen die Beweisführung der Verteidigung zustande kommen.2 Dadurch waren der subjektiven Sicht der Siegermächte Tür und Tor geöffnet und die besiegten Deutschen per Gerichtsbeschluß verpflichtet, diese Sicht zu übernehmen. Zu den Behörden, die diese so zustande gekommenen „Feststellungen“ in jeder Hinsicht als rechtswirksam zu behandeln haben, gehören die Kultusministerien der Länder, die die Aufsicht über den Inhalt der Geschichtsbücher an den Schulen führen. Die forschenden Beamten sind per Diensteid an diesen Artikel 7 des Deutschlandvertrags gebunden und damit an eine Lesart von „Geschichte“ , die in Nürnberg verbindlich festgeschrieben worden ist.

1 In AA 1939, Nr. 2, Dokument 208 mit polnischer Kriegsdrohung und in ADAP, Serie D, Band VI Dokument 101 (von 1956) ohne diese Drohung.

2 Artikel 19 und 20 der Statuten des Nürnberger Militärtribunals. Siehe ITM, Band I, Seiten 7-9

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Nun könnte man sagen, daß der Überleitungsvertrag und das Jahr 1954 selber schon Geschichte sind. Doch 1990 wurde die Bindekraft der Urteile des Nürnberger Prozesses per Vertrag ein weiteres Mal verlängert. 1990 wurde der Überleitungsvertrag durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst, und die Siegermäch-te bestanden dabei darauf, daß der besagte Artikel 7 (1) des Vertrags von 1954

weiterhin Bestand hat. In der „Vereinbarung vom 27728. September 1990 zum Deutschlandvertrag und zum Überleitungsvertrag“, die den Zwei-plus-Vier-Vertrag begleitet, wurde das noch einmal von deutscher Seite schriftlich zugesichert.3 So weiß man als Leser heute nicht, wo Historiker und Autoren aus der frühen Bundesrepublik gesetzestreu die Siegerlesart der Geschichte zu Papier gebracht und nachfolgenden Historikern und Autoren als irreführendes Erbe hinterlassen haben.

Angesichts einer so facettenreichen Literatur- und Quellenlage sollte es den Leser dieses Buches nicht erstaunen, daß das Bild der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen, das sich mir erschlossen hat, zum Teil von dem abweicht, was sonst in Deutschland Allgemeingut ist.

Nun zur dritten Vorbemerkung. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Tausende von Büchern gelesen und verarbeitet zu haben, die zum Thema meines Buchs bereits geschrieben worden sind und die neuesten wissenschaftlichen Publikationen dazu zu kennen. Mein Anliegen ist es, die Geschichte, die zum Zweiten Weltkrieg führt, in begreifbare Zusammenhänge zu stellen und sie gut lesbar zu erzählen. Ich hoffe, daß dies besonders jüngeren Lesern bei ihrer Suche nach einem eigenen Urteil zur Geschichte hilft.

Als vierte Vorbemerkung möchte ich etwas zur Gliederung des Buches sagen.

Bei dem Bemühen, Zusammenhänge aufzuzeigen, habe ich vieles nicht nach seinen Zeitabläufen sondern nach den Querbezügen dargestellt, z.B. nacheinander den Umgang der Polen mit den Russen, mit den Briten, mit den Deutschen usw.

Da viele der verschiedenen Querbezüge und Zusammenhänge in den selben Zeitabschnitten stattgefunden haben und die selben geschichtlichen Ereignisse berühren, sind zahlreiche Wiederholungen im Text nicht zu vermeiden. Das mag den einen Leser stören, dem anderen ist es vielleicht eine willkommene Ge-dächtnisstütze bei der großen Zahl beschriebener Ereignisse.

Die letzte Vorbemerkung gilt der Einordnung des Themas in das Zeitgeschehen.

Unser deutsches Geschichtsbewußtsein, soweit es die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft betrifft, ist von der grauenhaften Seite des damaligen Regimes geprägt. Wir können kaum über diese Zeit berichten, ohne an den Untergang der Rechtsstaatlichkeit im Lande und ohne an die grausame Ermordung von Juden und anderen Minderheiten zu denken. Die Erinnerung an die Verbrechen im Auftrag der damals eigenen Regierung legen sich wie ein düsterer Schatten auf die 3 Zwei-plus-Vier-Vertrag, Prof. Stern, Seiten 227f und BM Justiz vom 22.1.1997.

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betrachtete Epoche. Der Nationalsozialismus als Leitidee des damaligen Regimes und der Untergang des Parlamentarismus nach 1933 haben sicherlich Voraussetzungen geschaffen, die es Hitler erleichtert haben, 1939 einen Krieg gegen Polen zu eröffnen. Doch beides hat den Zweiten Weltkrieg nicht verursacht. Von den Verbrechen der deutschen Reichsregierung an den Juden in Deutschland ist Ähnliches zu sagen. Sie haben zwar das Engagement Amerikas gegen das nationalsozialistische Deutschland gestärkt, aber sie haben den Zweiten Weltkrieg nicht verursacht. So sind Unrechtsstaat und Mord an Minderheiten nicht Ursache und Anlaß für den Krieg gewesen. Sie sind deshalb auch nicht der Unter-suchungsgegenstand des Buchs und nicht sein Thema. Ich will vielmehr versuchen zu beschreiben, was 1939 zum zweiten Streit der Völker innerhalb von 25