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Daß die Tirpitz-Flotte im Ersten Weltkrieg Deutschland vor dem bewahrt, was die Royal Navy vor dem und im Kriege plant, übt und untersucht, nämlich an Deutschlands Nordseeküste Truppen anzulanden, in der Nordsee zu blockieren und in die Ostsee einzudringen, um dort vereint mit Rußlands Ostseeflotte die deutsche Küste anzugreifen, daß die Tirpitz-Flotte dies verhindert, wiegt wenig vor der Frage, ob ihr Bau zum Teil den Krieg verursacht hat. Fest steht, daß der Flottenbau in Deutschland die öffentliche Stimmung in England vor dem Ersten 16 Britische Flotte

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Weltkrieg weiter anheizt. Fest steht auch, daß es in Deutschland vor dem Kriege weder Plan noch Absicht gibt, einen Krieg um was auch immer gegen Großbritannien zu beginnen. Und fest steht ebenfalls, daß die englische Regierung es zwischen 1901 und 12 ein paarmal ablehnt, einen Nichtangriffs- oder Neutralitätsvertrag oder einen Freundschaftspakt mit der Reichsregierung abzuschließen. London besteht auf seinem „Recht“ gegen Deutschland Krieg zu führen. Tirpitz' und des Kaisers Hoffnung auf mehr Sicherheit und eine bessere Bündnisfähigkeit des Deutschen Reiches bleiben unerfüllt.

Englands Alternative

In die Gesamtschau der Marinen vor dem Ersten Weltkrieg gehört auch ein Blick auf die US-Navy. Deutschland und die USA rüsten ihre Flotten seit 1902

im gleichen Tempo und in gleichen Mengen auf. So hätten sich die britischen Bedrohungsängste genauso an der Flotte Nordamerikas entzünden können. Die USA sind außerdem, soweit es ihre Industrie und ihren Handel angeht, auf der Überholspur gegenüber England. Und sie erwerben seit 1898 Kolonien: Kuba, die Philippinen und Hawaii. Somit treffen die drei Konkurrenzkriterien, die Großbritannien von Deutschland trennen, genauso auf die USA zu: Handel, Kolonien und der Flottenbau.

Daß England und die USA vor dem Ersten Weltkrieg trotzdem zueinanderfinden, und nicht England und sein Nachbar Deutschland, muß seine Gründe haben.

Londons „balance-of-power-Strategie“ ist hinlänglich erklärt. Ein anderer Grund liegt in einer offenkundigen Hinwendung Amerikas zu England. Bis zur Regierungszeit des US-Präsidenten Mac Kinley sind die Beziehungen der USA zum Deutschen Reich stets freundschaftlich und ausgewogen. Das englisch-amerikanische Verhältnis steht dagegen bis dahin noch immer unter der Hypothek der früheren Kolonialherrschaft der Briten und der Kolonialkriege Englands in Amerika. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Einsatzplanung der US-Navy, die mit dem „Fall Rot“ den Seekrieg gegen Großbritannien vorsieht17. Mit der Ermordung Mac Kinleys 1901 und dem Wechsel zu Theodore Roosevelt im Präsiden-tenamt setzt in den USA ein neues Denken ein. Roosevelt und sein Nachnach-folger Wilson sind deutlich anglophil. Sie suchen die Partnerschaft zu Großbritannien. Doch beide glauben, daß die Zeit gekommen ist, die Vormacht Englands durch die eigene abzulösen. Theodor Roosevelt denkt dabei offensichtlich zunächst nur an eine Ebenbürtigkeit der USA mit England. Wilson geht schon weiter. Im Ersten Weltkrieg unter Wilson rücken die USA an Stelle Englands zur ersten Seemacht auf, ersetzt der Dollar das Pfund Sterling als Leitwährung und wird der Finanzplatz London durch die Wall Street abgelöst. Dieser Siegeszug der USA setzt sich dann im Zweiten Weltkrieg fort. US-Präsident Franklin Delano Roosevelt zwingt die Briten 1942 als Preis für seine Waffenhilfe, die Koloni-17 Schwarz, Seite 39

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en freizugeben. Die USA ersetzen die alte Vorherrschaft der Briten im internationalen Rahmen durch eine neue Ordnung der supra-nationalen Organisationen wie UNO, Weltbank und so weiter, die sie zunächst selber dominieren.

Zurück zum deutsch-britischen Verhältnis von 1901 bis 1914. England ist – obwohl ein „global player“ – vor dem Ersten Weltkrieg strategisch auf Europa festgelegt. Die Sorge um die balance of power wird alleine auf das nahe Deutsche Reich bezogen. England hätte sich mit gleicher Sorge und Berechtigung vor den Vereinigten Staaten von Amerika hüten und die Nähe Deutschlands suchen können. Deutsche Bitten um Verträge hatte es zwischen 1901 und 12 genug gegeben.

Doch der Wirtschaftsaufschwung des nahen Konkurrenten hatte die öffentliche Meinung in Großbritannien schon vorher angeheizt. Konkurrenzgefühle, nationaler Stolz und die Fixierung der balance-of-power-Idee aufs nahe Festland in Europa lassen in der politischen Elite Englands keine Weitsicht zu. England hätte vor dem Ersten Weltkrieg sehen müssen, daß ihm auf Dauer nur die USA und nicht das Deutsche Reich den Rang ablaufen werden. Nur Nordamerika ist im Besitz der beiden unabdingbaren Voraussetzungen für eine Seemacht: die Flotte und Flottenpositionen an den Küsten zweier Weltmeere. Deutschland dagegen besitzt nur eine Flotte. Ohne Flottenpositionen hat es keine Chance, sich auf Dauer auf den Meeren gegen England durchzusetzen. Die USA haben –

auch das ist 1901 erkennbar – außerdem ein weitaus größeres Wachstums-potential als Deutschland, soweit es die Zahl der Menschen, die Bodenschätze sowie die Dynamik der Wirtschaft dieses Riesenstaats betrifft. So verkennt Englands politische Elite vor dem Ersten Weltkrieg, daß sie die balance-of-power global begreifen muß. Sie sieht nicht, daß es die USA sein werden, die Großbritannien binnen 40 Jahren in den Schatten stellen werden.

Englands Feindbild

Erkennbar wird die deutsch-englische Entfremdung auch an dem Wandel des Bildes, das die Historiker in England von der Geschichte ihres deutschen Nachbarn zeichnen. Vor der Jahrhundertwende 1900 ist die gemeinsame

Abstammung beider Völker von den „freien, tapferen, rechtsbewußten und demokratischen“ Germanen18 noch ein Positivum, das verbindet. Die Deutschen wie die Briten werden dabei nicht selten als Angehörige der teutonischen Völkerfamilie bezeichnet19. Die gleichzeitige Ablehnung der Romanen und Franzosen reflektiert das kritische Verhältnis Englands zur damals stärksten Festlandsmacht. Ab der Jahrhundertwende löst Deutschland Frankreich in den Augen vieler Briten als stärkste Militär- und Wirtschaftsmacht Kontinental-europas ab. Langsam gewinnt dementsprechend nun das Kelten-Erbe Englands an historischer Beachtung und die germanische Gemeinsamkeit verblaßt.

18 Messerschmidt, Seite 17

19 Messerschmidt, Seiten 27 und 39

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Politisch im besonderen wirksam ist das Bild, das sich die englischen Historiker von Preußen machen. Bis etwa 1910 beherrschen die für ihre Zeit sehr liberalen, effizienten und auf die Rechte ihrer Bürger achtende Preußenkönige, das tüchtige Militär und der Patriotismus von Stein und Hardenberg die Szene. Danach verkehrt sich das bis dahin positive Preußenbild in das Image eines Preußen als Staat der Unfreiheit, der Obrigkeitshörigkeit, des Militarismus und der Gewalt.

Dies Preußen wird oft pars pro toto mit ganz Deutschland gleichgesetzt und stellt als solches in den Augen vieler britischer Historiker den Gegensatz zum positiv gesehenen liberal-parlamentarischen England dar. Der „Teutone“, vor Jahrzehnten noch Ahnherr der Deutschen und der Briten, wird im Ersten Weltkrieg sogar zum Schimpfwort für die Deutschen, und das Preußentum zur

„Bedrohung der Zivilisation20.

Nicht jeder englische Historiker sieht das neue Deutsche Reich jedoch in solchen düsteren Farben. John Adam Cramb bewundert durchaus die Kraft, den „Herois-mus“ und die Disziplin der Deutschen. Doch was er 1914 in seinem Werk „Germany and England“ schreibt, klingt in anderer Weise düster.

„Die Deutschen zeigen den Impuls eines aktiven, expansionsdürstigen, weltreichhungrigen Volkes. ... Deutschland wird auf das englische Weltreich stoßen wie Alarich auf Rom21.“22

Das ist ein Menetekel.