Wieder einmal hatte Pomfret ganz klar erkennen lassen, daß ihm der Verbrauch von Menschen weniger bedeutete als etwa der von Segeltuch oder Spieren.
«Darf er denn das?«fragte Leach eindringlich.»Ich meine — ist es legal?»
«Vielleicht gibt es ein paar Anfragen im Parlament, Leach. Aber vermutlich kümmert sich kein Mensch darum. Manche werden der Ansicht sein, daß ein Transport von Verbrechern das Land schon zu viel Geld kostet, besonders jetzt, da wir wieder im Kriege mit Frankreich sind. Diese Leute werden es für durchaus vernünftig halten, daß die Sträflinge ihre Überfahrt sozusagen abarbeiten.»
Jedoch Leach war eigensinnig.»Aber Sie — halten auch Sie es für richtig?»
Bolitho verschränkte die Finger unterm Tisch.»Das geht Sie nichts an, Leach!«Er sprach schärfer als beabsichtigt und wußte, daß Leach seine innere Unsicherheit daran so deutlich erkannte, als hätte er seine wahren Gedanken laut ausgesprochen.
Tudor sah zu Boden.»Wenn das so ist.»
Auf einmal wurde Bolitho wütend.»Wenn das so ist, dann wollen wir die Sache unverzüglich in Angriff nehmen, nicht wahr, Tudor?»
«Soll ich den Kapitän der Justice informieren, Sir? «versuchte Leach die Spannung zu lockern.»Er ist ein schwieriger Mann und hat für die Marine nicht viel übrig.»
«Ich werde es ihm selbst sagen«, erwiderte Bolitho und schritt zum Fenster.»Keine angenehme Aufgabe.»
Leach wechselte das Thema:»Ich höre, Sie brauchen einen Ersten Offizier, Sir? Mein eigener ist ein guter Offizier, bei dem längst ein Avancement fällig wäre.»
Bolitho starrte zum Sträflingsschiff hinüber, als sähe er es zum erstenmal.»Danke, Leach, das ist anständig von Ihnen. Sowohl mir gegenüber als auch Ihrem Leutnant, den Sie vermutlich nicht gern verlieren würden. «Er schüttelte den Kopf.»Aber damit müssen wir noch eine Weile warten. Der Wind krimpt die ganze Zeit und frischt immer mehr auf. Wir müssen bald weg, sonst kommen wir nicht mehr raus und müssen den Sturm auf Reede abwettern.»
Leach nickte.»So weht es schon seit Tagen vom Atlantik. «Er stand auf und griff nach seinem Hut.»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wir müssen möglichst bald in See gehen.»
Bolitho geleitete die beiden Offiziere an Deck. Als sie in ihren Booten waren, befahl er:»Meine Gig, bitte! Ich will zur Justice hinüber.»
Am kurzen Blickwechsel seiner Offiziere merkte er, daß sie ganz genau wußten, was vor sich ging. Neuigkeiten liefen auf irgendwelchen geheimnisvollen Wegen schneller von einem Schiff zum anderen als durch das ausgeklügeltste offizielle Signalsystem.
«Haben Sie Befehle, Sir?«fragte Rooke.
«Besorgen Sie mittlerweile so viel frisches Obst, wie die Boote tragen können. Aber um acht Glasen gehen wir ankerauf, verstanden?»
Damit kletterte er ins Boot und wickelte sich in seinen Mantel, als wolle er seine Gedanken vor den Blicken der neugierigen Matrosen verbergen.
«Ablegen! Zu-gleich!«blaffte Allday. Leise sagte er über Bo-lithos Schulter:»Komischer Name für 'n Sträflingsschiff, Sir.[7] Aus dem Bodmin-Gefängnis sind ein paar Leute deportiert worden, die haben bloß mal 'n Brot gestohlen. Ist das vielleicht Gerechtigkeit!»
Bolitho duckte sich vor dem Sprühwasser, das wie Hagel über ihn wegpeitschte. Seltsam, daß Allday und seinesgleichen, die selber gewaltsam zur Marine gepreßt worden waren, so viel Mitgefühl für diese Leute, aber keines für ihre Kameraden empfanden, die wie sie selbst Heimat und Familie entrissen worden waren. Doch genau wie Allday wußte er, daß es da Unterschiede gab; und auch wenn er sich nicht daran stören durfte, würden sie ihm doch ständig bewußt bleiben.
«Boot ahoi!«ertönte eine grobe Stimme vom verwitterten Deck des Transporters herab.
Laut und deutlich antwortete Allday:»Kommandant Seiner Majestät Linienschiff Hyperion kommt an Bord!»
Bolitho erschauerte unter seinem Mantel. Die Justice stank nach menschlichem Zerfall, nach Verwesung.
VIII Passagier an Bord
Kapitän Hoggan von der Justice stand mit verschränkten Armen mitten in seiner unordentlichen Kajüte und betrachtete Bolitho unverhohlen amüsiert. Er war ein muskulöser Mann mit dickem, ungekämmtem Haar; sein schwerer Rock, der für den Nordatlantik besser geeignet gewesen wäre, sah aus, als hätte er darin geschlafen.
«Wenn Sie dachten, ich hätte was dagegen, haben Sie sich getäuscht. «Er deutete auf eine Schnapsflasche.»Möchten Sie ein Glas, bevor Sie gehen?»
Bolitho blickte sich in der Kajüte um. Seekisten und Gepäckstük-ke aller Art türmten sich an den Wänden; es gab auch ein blankes Gestell mit Musketen und Pistolen. Wie kam ein ehrlicher Seemann dazu, so einen Posten anzunehmen? Ein Schiff zu befehligen, das sein Geld verdiente, indem es eine elende Menschenfracht nach der anderen transportierte? Wahrscheinlich enthielten diese Kisten die persönliche Habe von Sträflingen, die während der Überfahrt gestorben waren. Bei diesem Gedanken verging Bolitho der Durst.»Nein, Captain, ich trinke nicht«, erwiderte er kalt.
«Wie Sie wollen. «Die enge Kajüte roch auf einmal nach Rum, denn Hoggan schenkte sich ein großes Glas randvoll.»Was ist schon dabei?«fragte er.»Auf Ihren Befehl bringe ich also dieses Mistpack nach Cozar. Was danach kommt, ist Pomfrets Problem. «Er kniff ein Auge zu.»Für mich ist das eine kurze Reise — und dann ab nach Hause, zum selben Preis. Viel besser, als monatelang auf See zu liegen und dann in der Botany Bay!»
Trotz der dumpfen Hitze in der Kajüte erschauerte Bolitho.»Schön. Sie werden also Anker lichten, sobald ich signalisiere. Richten Sie sich nach allen Anweisungen, die Sie von meinem Schiff bekommen, und halten Sie immer Ihre Station!»
Hoggans Miene wurde härter.»Meine Justice ist kein Kriegsschiff!»
«Sie steht jedenfalls unter meinem Befehl. «Bolitho versuchte, die Verachtung zu unterdrücken, die er für diesen Mann empfand. Er blickte auf seine Taschenuhr.»Jetzt seien Sie so gut und lassen Sie die Gefangenen antreten. Ich will ihnen sagen, was geschieht.»
Hoggan schien protestieren zu wollen. Aber dann grinste er und murmelte:»Das ist ja die Höhe! Warum machen Sie sich diese Mühe mit den Kerls?»
«Tun Sie bitte, was ich sage!«befahl Bolitho mit abgewandtem Blick.»Die Leute haben wenigstens das Recht, zu erfahren, was aus ihnen wird.»
Hoggan stapfte hinaus; Minuten später hörte Bolitho draußen Befehlsgebrüll, dann stand Hoggan wieder in der Kajütentür und verbeugte sich ironisch.»Die Gentlemen sind bereit, Captain!«meldete er mit breitem Grinsen.»Ich muß für ihr rauhes Äußere um Entschuldigung bitten, aber sie haben den Besuch eines Offiziers des Königs nicht erwartet!»
Bolitho warf ihm nur einen kalten Blick zu und trat auf das windgepeitschte Deck hinaus. Schmale Wolkenfetzen jagten hoch oben über die kreisenden Mastspitzen, und Bolitho merkte, daß der Wind immer mehr auffrischte.
Dann blickte er vom Hauptdeck hinunter in die dichtgedrängte Masse der zu ihm emporgerichteten Gesichter. Die Justice war nicht viel geräumiger als eine große Fregatte, doch war ihr Rumpf, wie er wußte, wesentlich tiefer; bei ihr kam es nicht auf Schnelligkeit an, sondern auf reichlichen Frachtraum. Und doch schien es unwahrscheinlich, daß alle diese zerlumpten, verzweifelten Männer die lange Reise nach Neu-Holland überlebt hätten, denn das Schiff hatte außer ihnen noch eine volle Mannschaft und entsprechende Vorräte an Bord. Er musterte die beiden Decksgänge: anders als bei einem Kriegsschiff waren sie nicht nur nach außen, sondern auch nach innen bestückt; die gefährlich aussehenden Drehbassen waren nicht nach See, sondern auf die unten versammelten Sträflinge gerichtet. Sie waren ganz unterschiedlich gekleidet; vom feinen, aber verschmutzten Wollstoff bis zu stinkenden Gefängnislumpen war alles vorhanden; hier und da fiel ein ehemals farbenprächtiges Gewand auf und machte das Bild noch fremdartiger. Durch Habgier oder Unglück entwurzelt, standen sie jetzt stumm auf dem schwankenden Deck. In ihrem Gesichtern waren alle möglichen Gefühle von ängstlicher Erwartung bis zur stumpfen Verzweiflung zu lesen.