Er wandte das Gesicht in den Wind und erschauerte leicht, als er durch das offene Hemd an seine Brust berührte.
Gimlett hatte ihn vor Sonnenaufgang geweckt, aber er hatte noch minutenlang reglos in seiner Koje gelegen. Ganz leicht konnte er ihre Nähe, die Berührung ihrer Hand, sogar den Duft ihres Haares spüren. Es war ein hastiger Abschied im Hause Labourets gewesen. Als er danach in seiner Koje lag, waren ihm die warmen Decken wie ihre Umarmung vorgekommen, und als er aufgestanden war und sich vor seinem Spiegel rasierte, dachte er an ihre Hand, die ihn gestreichelt hatte.
«Mr. Herrick«, sagte er unvermittelt,»sobald wir klar von Land sind, lassen Sie Fock, Besan- und Großsegel setzen. Wir steuern Nordost und nutzen diesen ablandigen Wind aus.»
Herrick nickte.»In der Südsee habe ich mir geschworen, ich würde niemals mehr um Wind beten. Aber selbst die Nordsee im Winter ist besser als diese Flaute.»
Bolithos Blick war abwesend.»Ich weiß. Ein scharfer Wind, der einem gefrierenden Gischt ins Gesicht treibt, verjagt die trüben Gedanken, oder wenigstens tun sie dann nicht mehr so weh.»
Gossett spähte nach dem fernen Leuchtturm aus. Automatisch berechnete er im Kopf Abdrift und Kompaßkurs.»Klar zum Halsen,
Sir.»
Zögernd fragte Herrick:»Ist alles gutgegangen, Sir? Ich meine, haben Sie alles arrangieren können?»
Bolitho seufzte.»Zum Teil, Thomas. Labouret wird tun, was er kann, das hat er mir versprochen. Und dann habe ich in Captain Ashby einen guten Verbündeten. Unter diesen Umständen bin ich jedenfalls froh, daß er an Land bleibt.»
Jetzt kam das Schiff klar von der Landspitze und überließ sich bereitwillig der wartenden Dünung. Das Sonnenlicht schoß durch das straffe Rigg und spielte auf der Krone des Titanenhauptes unterm Bugspriet.
Bolitho riß sich aus seinen trüben Gedanken.»Klar zur Halse, bitte!«Herrick wartete ab, bis der Befehl wiederholt und ausgepfiffen war, und fragte dann:»Noch Befehle, Sir?»
Plötzlich fiel Bolitho der frischgebrühte Kaffee in seiner Kajüte ein. Vorhin hätte er ihn nicht anrühren mögen; jetzt brauchte er ihn, und sei es auch nur, um allein zu sein.»Wir exerzieren um acht Glasen mit der unteren Batterie, Mr. Herrick«, sagte er.»Ich will nicht, daß die Geschütze rosten, nur weil sie nicht benutzt werden.»
Lächelnd sah Herrick ihm nach, als er unter den Kampanje verschwand. Er macht das Beste daraus, dachte er. Und er hat ganz recht, wenn er Schiff und Mannschaft gerade jetzt scharf hernimmt. Die Kommandeure der Hyperion kamen und gingen, aber sie selbst mußte gesegelt und in Betrieb gehalten werden, und dazu waren die Männer da, die auf ihr Dienst taten.
Er nahm seine Sprechtrompete auf.»Mr. Pearse: Untere Batterie exerziert um acht Glasen! Und ich bitte mir aus, daß Sie bis zur Feuerbereitschaft zwei Minuten weniger brauchen als letztesmal!»
Der Stückmeister nickte, und Herrick begann, auf dem Achterdeck auf und ab zu gehen. Ich rede schon wie Bolitho, dachte er. Diese Erkenntnis freute ihn, und er beschleunigte seine Schritte.
Die Nacht erreichte die Hyperion gut zwanzig Meilen nordöstlich von St. dar. Fast reglos hingen ihre Segel, sie dümpelte träge in der hohen, ablandigen Dünung. Die Luft in Bolithos Kajüte war stickig, die anwesenden Offiziere drängten sich nach Möglichkeit unter dem offenen Skylight zusammen, und ihre Gesichter glänzten feucht im Licht der schwingenden Lampen.
Stumm, mit dem Rücken zum Heckfenster, sah Bolitho Gimlett zu, der nervös hin und her huschte, die Gläser der Offiziere nachfüllte und den Pfeifentabak herumreichte. Hier hinter dem Schott war es ungewöhnlich ruhig, nur das ums Ruderblatt gurgelnde Wasser und das Knarren der Ruderzüge tönten herein, gerade laut genug, um zu unterstreichen, wie wenig Fahrt sie machten. Aber das spielt gar keine Rolle, dachte Bolitho bitter. Bei seiner Patrouille kam es weder auf Schnelligkeit noch auf den Kurs an. Das Schiff mußte lediglich da sein. Nur hatten seine Leute bei diesem Schleichtempo, dieser langweiligen Routine, zu wenig Beschäftigung und zu viel Zeit, um über die Zwecklosigkeit ihres Auftrags nachzugrübeln. Was auch geschah, er mußte dafür sorgen, daß sie nicht unter der Isolierung zu leiden hatten, die Pomfret ihm aufzwang. Er hatte seine Offiziere zu einem außerdienstlichen Zusammensein gebeten, als ersten Schritt eines psychologischen Feldzugs, der konsequent weitergeführt werden mußte, wenn nicht die sorgfältig aufgebaute Kampfmoral vor seinen Augen verrotten sollte.
Langsam blickte er im Kreis der Gesichter umher, und dabei wurde ihm wieder einmal klar, daß sein Offizierskorps nicht nur zahlenmäßig kleiner geworden war, sondern auch wesentliche personelle Veränderungen erlitten hatte. Quarme und Dalby waren tot; die beiden Marine-Infanteristen und der junge Seton waren in St. Clar geblieben. Und die noch Anwesenden wirkten durch die unaufhörliche dienstliche Überbeanspruchung müde und erschöpft. Fast jeder Seemann schimpfte ständig über sein schweres Los; aber diese hier hatten auch allen Grund dazu. Der junge Piper zum Beispiel war gerade sechzehn, war mit dreizehn Jahren an Bord gekommen und hatte bis zu diesem Tag kaum jemals den Fuß an Land gesetzt, allenfalls hatte er mit seiner geliebten Jolle kleine Aufträge ausgeführt. Den meisten anderen in diesem überfüllten Schiff ging es ähnlich. Das harte Leben war bei der Marine etwas ganz Selbstverständliches; und so brauchte man sich nicht zu wundern, daß die Landbewohner die Preßkommandos[11] fürchteten wie die Pest und schon beim bloßen Anblick einer Marineuniform Angst bekamen. Und doch waren diese Männer, die neben ihren Geschützen lebten, sie jeden Tag sahen, sobald sie nur erwachten, unschlagbar im Gefecht, und anscheinend war auch ihr Kampfgeist nicht zu brechen. Oft genug mußten sie hungern, wenn der Kommandant ein Geizkragen, oder wurden ausgepeitscht wie Tiere, wenn er ein Tyrann war. Doch sobald sie zum Kampf gerufen wurden, versagten sie kaum jemals. Das konnte Bolitho nie ganz verstehen. Manche sagten, sie wären aus Angst so tapfer; andere meinten, Tradition und Disziplin der Marine seien die wirklichen Gründe. Er jedoch glaubte, daß die Ursachen tiefer lagen. Ein Kriegs-
schiff war eine Lebensgemeinschaft. Vaterland und Flagge standen oft genug erst an zweiter Stelle. Die Männer in den vollgestopften Decks kämpften, um einander zu schützen, um alte Kameraden zu rächen, und sie kämpften um ihr Schiff.
Mit ruhiger Stimme begann er zu sprechen.»Ich habe Sie hergebeten, meine Herren, damit Sie die Schwierigkeiten, die auf uns zukommen, klar erkennen. Es kann Wochen dauern, bis wir zurückgerufen werden. Niemand weiß, was die Franzosen planen und auszuführen imstande sind. Aber angesichts dieser Umstände ist unser Platz die hohe See. Was der Feind auch für Siege in Europa erringt, er kann den Krieg nicht gewinnen, solange unsere Schiffe bereit sind, ihn zu bekämpfen. «Er bemerkte, daß Herrick sachlich nickte und der junge Caswell sich auf die Lippen biß.»Wir werden täglich exerzieren. Aber wir müssen noch weitergehen. Versuchen Sie zu erreichen, daß die Leute sich nicht zu viel mit sich selbst beschäftigen. Arrangieren Sie Wettkämpfe, ganz egal wie banal und unbeträchtlich; tun Sie Ihr Bestes, um ihnen Mut zu machen. Was vorher an Gutem oder Schlechtem unbemerkt geblieben ist, bricht hervor, wenn wir mit Langeweile und Einsamkeit nicht fertig werden. «Er hob sein Glas.»In diesem Sinne meine Herren, trinken wir auf unser Schiff. Gott segne es!»