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»Und wenn sie ...«, begann der junge Schaffner, der Paul hieß.

»Merde alors«, sagte Emile. Er sah mich an. »Es ging der Dame doch gut, Monsieur, oder nicht?« »Ausgezeichnet«, sagte ich.

Wir blickten uns eine Weile schweigend an. »So geht das nicht«, sagte Emile zuletzt. »Ich blei­ be hier. Lauf du zum Vorsteher, Paul! Sag ihm, was los ist! Wir brauchen einen Schlosser, der den ver­ dammten Bolzen durchsägt.« Paul lief schon los. »Und der Vorsteher soll auf alle Fälle gleich die pompiers verständigen!«

Pompiers heißt Feuerwehrleute. In Frankreich wer­ den immer sie zuerst gerufen, wenn ein Unglück geschehen ist.

Der Train bleu verläßt Paris vom Gare de Lyon um 21 Uhr 46. Er hat nur Schlaf- und Liegewagen und fährt bis Ventimiglia, dem italienischen Grenzort an der Côte d'Azur. In südlicher Richtung fährt der Train bleu quer durch Frankreich zum Mittelmeer. Das erste Mal bleibt er in Saint-Raphaël stehen. Danach hält er oft - in Cannes zum Beispiel, in Ju-an-les-Pins, in Cagnes-sur-Mer, Nizza, Beaulieu, Monte Carlo. Er hält dann an vielen Stationen, die alle am Meer liegen.

Ich war mit einem Taxi von meiner Wohnung zur Gare de Lyon gefahren, und ungefähr eine Viertel­ stunde lang hatte ich mir das Fluchen des Chauf­ feurs angehört, der wegen des wüsten Regens und des starken Verkehrs nur langsam vorwärts kam. Am Bahnhof gab es keinen Träger. Ich schleppte meinen Koffer und meine Schreibmaschine den langen »Blauen Zug« entlang bis zum Schlafwagen

17. Mein Abteil lag etwa in der Mitte des Waggons. Vor der offenen Tür des Nebenabteils stand eine Dame und rauchte. Ich grüßte. Sie lächelte und neigte den Kopf.

Diese Dame hatte eine wundervolle Art zu lächeln. Es war, als gehe die Sonne auf in ihrem feinge­ schnittenen, schmalen Gesicht. Die Augen waren sehr groß. Sie hatte schöne Zähne und einen brei­ ten Mund mit vollen Lippen. Sie trug ein rotes Kleid und eine Perlenkette. Gleich als ich sie sah, emp­ fand ich, daß diese Frau erfüllt war von fast unirdi­ scher Seligkeit. Groß und schlank stand sie da. Ihr weißes Haar lag wie ein Helm um ihren Kopf und hatte einen feinen violetten Schimmer. Während sich der Schaffner mit meinem Billett beschäftigte, erblickte ich in der dunklen Fensterscheibe, vor der die Dame stand und über die der Regen peitschte, ihr Spiegelbild. Erstaunt bemerkte ich, daß sie mich beobachtete. Ich kannte diese Dame nicht. Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Ich lächelte ihrem Spiegel­ bild zu. Sie lächelte gleichfalls.

»Wann wünschen Sie geweckt zu werden, Mon­ sieur?« fragte der Schaffner, der die Kladde mit den Namen der Passagiere bei sich trug.

»In Saint-Raphaël, bitte.«

»Frühstück?«

»Ja, bitte.«

»Kaffee oder Tee?«

»Tee. Mit Milch.«

»Wie ich«, sagte die Dame in dem roten Kleid. »Wie Madame Collins, gewiß«, sagte der Schaffner mit der Glatze. »Madame wünscht gleichfalls, in Saint-Raphaël geweckt zu werden.«

»Ja, bis Cannes habe ich dann noch genug Zeit. Sie fahren auch bis Cannes, Monsieur?« »Jawohl, Madame ...«

»Collins, Roberta Collins.« Sie sprach französisch mit starkem amerikanischen Akzent.

»Royan«, sagte ich, »Roger Royan.«

»Wünschen die Herrschaften jetzt noch etwas?« Bevor ich etwas erwidern konnte, antwortete sie: »Ich würde gerne Champagner trinken.« Sie sah mich an. Grün waren ihre großen Augen. »Finden Sie, daß ich unmöglich bin, wenn ich Sie einlade, Monsieur Royan?«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Mrs. Collins. Natürlich nehme ich gerne Ihre Einladung an«, sagte ich. Ihr Lächeln wurde stärker.

»Wie schön. Sie haben doch Champagner?« »Gewiß, Madame.« Der Schaffner zählte drei Mar­ ken auf.

»Pommery«, sagte Mrs. Collins.

»Sofort, Madame. Eine Flasche Pommery.« Der Schaffner eilte fort.

Mrs. Collins war gewiß fünfzig Jahre alt, aber sie sah viel jünger aus. Sie sah aus, als wäre sie eben vierzig geworden. Gewiß hatte sie ihr Gesicht liften lassen, bei einem erstklassigen Schönheitschirur­ gen. Es waren ihre Hände, die Mrs. Collins verrie­ ten. Ihre Hände hatte sie nicht liften lassen. Fünfzig ist sie, dachte ich. Mindestens.

Der Train bleu fuhr jetzt sehr schnell.

Der Schaffner hatte den Champagner und einen Kübel voller Eiswürfel sowie zwei Gläser gebracht. Er hatte die Flasche geschickt geöffnet und mich kosten lassen.

»In Ordnung, Monsieur?«

»In Ordnung.«

»Dann gestatten Sie ...« Er hatte die Gläser halb gefüllt, die Flasche in den Kübel gestellt und sich verneigt. »Wenn die Herrschaften mich brauchen - hier ist der Klingelknopf.«

»Danke«, hatte Mrs. Collins gesagt. »Vielen Dank, Monsieur. Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich.«

»Sehr wohl, Madame.« Er war verschwunden. Ganz sanft bewegte sich das Bett, auf dem wir bei­ de saßen. Die Achsen schlugen gehetzt. »Trinken wir auf mich«, sagte Mrs. Collins. »Auf mein neues Leben. Ich habe ein neues Leben be­ gonnen, wissen Sie, Monsieur Royan. Wollen wir darauf trinken, daß es schön wird, dieses neue Le­ ben?«

»Es soll ganz großartig werden, Mrs. Collins.« »Das soll es, ja«, sagte sie, und da war wieder ihr Lächeln. »Also dann, auf mein ganz großartiges neues Leben. Santé, Monsieur Royan!« »Santé, Mrs. Collins.«

Wir tranken.

»Das ist ein Tröpfchen«, sagte Mrs. Collins. »Was? Ist das nicht ein phantastisches Tröpfchen?« »Pipi der Engel, Mrs. Collins.«

Der Sturm heulte um den Zug, und der Regen schlug schwer gegen die Scheibe hinter der Glanzstoffblende, die herabgelassen war. Mrs. Col­ lins stellte das Glas fort. Ich gab ihr Feuer für eine neue Zigarette.

»Sie rauchen nicht?«

»Nicht mehr. Ich habe es mir abgewöhnt.« Die Achsen schlugen, schlugen, schlugen ... »Ich habe Ihre Schreibmaschine gesehen. Sie sind Schriftsteller?«

»Ja, Mrs. Collins.«

»Was schreiben Sie? Romane? Sie müssen ent­ schuldigen - ich habe noch nichts von Ihnen ge­ lesen. Es gibt so viele Autoren ...«

»Ich schreibe Sachbücher. Naturwissenschaftliche Sachbücher.«

Und das war eine Lüge.

»Oh«, sagte sie und trank wieder einen Schluck. »Ich lese nie Sachbücher. Sind Ihre in andere Spra­ chen übersetzt?«

»Ja, Mrs. Collins.« Und das war noch eine Lüge. »Man bekommt sie auch in Amerika?«

»Natürlich.« Und das war die dritte Lüge. Ich schrieb keine Sachbücher. Ich war einer von den neun Autoren einer außerordentlich erfolgreichen Heftchenromanserie mit dem Titel »Affaire Top­ Secrète«. Jede Woche erschien eine neue Broschü­ re. »Affaire Top-Secrète« wurde auf Bahnhöfen und an Kiosken verkauft. Die Serie hatte sich sogar als noch populärer als die berühmte »Brigade mondai­ ne« erwiesen. Es war der allerletzte Dreck, den wir da produzierten. Vor langer Zeit hatte ich richtige Romane geschrieben. Niemand wollte sie lesen. Nun brauchte ich etwa drei Wochen, um mit einem Heftchen fertig zu werden.

Meine Hauptarbeit lag auf anderem Gebiet, und sie brachte wesentlich mehr Geld. Ich war Spezialist für die Reparatur von mißratenen Filmdrehbüchern. Das Script, das ich nicht wenigstens wieder so weit in Ordnung brachte, daß der Cutter die Sequenzen aneinanderkleben konnte, gab es nicht. Einen na­ tionalen Ruf hatte ich als Retter von Produzenten erlangt, die mitten in der Arbeit feststellen mußten, wie ein launenhafter Regisseur einfach zu weit von der Vorlage abgewichen war. In solchen Fällen gibt es Verträge mit Schauspielern, mit Technikern, mit dem Atelier, und jeder Tag, an dem nicht gedreht wird, bedeutet riesige Verluste für die Filmgesell­ schaft. Ich war der Engel aller mühselig beladenen, vom Unglück heimgesuchten Produzenten. Um ei­ nem solchen in der Not zu helfen, fuhr ich nach Cannes. Dort standen die Dreharbeiten an einem sehr teuren Film bereits seit vier Tagen still. »Bitte, bekommen Sie keinen falschen Eindruck von mir«, sagte Mrs. Collins. »Ich muß Ihnen reichlich seltsam erscheinen.«