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»Sie erscheinen mir wie jemand, der weiß, daß ihn eine große Freude erwartet«, sagte ich. »Eine große Freude«, wiederholte sie langsam. »Ja, das ist es wohl. Ich kehre für immer heim zu dem Mann, den ich am meisten geliebt habe.« »Darauf wollen wir trinken«, sagte ich und goß die Gläser voll. Der Champagner war jetzt richtig kalt. Mrs. Collins lächelte und öffnete eine Krokodil­ ledertasche. Ihr entnahm sie ein Stück Pappe, das so groß war wie eine Postkarte. Die eine Seite, sah ich, war beschrieben. Auf der anderen erblickte ich ein Mandelbäumchen. Es war in leuchtenden Was­ serfarben gemalt, die dünnen Äste schwarz, die kleinen Blätter braunrot, die vielen Blüten in ganz hellem Rosa. Es war ein Bild, das mich durch seine Atmosphäre faszinierte. Mir schien, als sei alles Wachsende und Werdende, alles Gute und Lie­ benswerte unserer Welt in diesem Mandelbäum­ chen eingefangen, über dem ein zartblauer Himmel schwebte. Es machte einen froh, dieses Bäumchen anzusehen. Es machte alles Traurige und Dunkle vergessen. Es war das Symbol der Hoffnung. Ich betrachtete es lange, und ich fühlte Wärme und Freude in mir aufsteigen, Freude am Leben, Erinne­ rungen an längst Vergangenes, aber nur an das, was beglückend, nur an das, was schön gewesen »Drehen Sie die Karte um«, sagte die seltsame Frau mit dem violett-weißen Haar. Auch in ihrer Stimme lag unendlicher Charme. Ich blickte sie an. Sie hatte die Heiterkeit eines jungen Mädchens, das sich auf die Liebe freut.

Ich drehte die Karte um und las, mit der Hand ge­ schrieben:

Neither the Angels in Heaven above,

Nor the Demons deep under the Sea

Shall ever dissever my Soul from the Soul Of the beautiful Annabel Lee.

»Das ist von Edgar Allan Poe«, sagte Mrs. Collins und trank.

Ich versuchte zu übersetzen: »Weder die Engel im Himmel noch die Teufel tief unter der See können jemals trennen meine Seele von der schönen An­ nabel Lee.«

»Der Mann, den ich am meisten geliebt habe, hat dieses Mandelbäumchen gemalt«, sagte Mrs. Col­ lins. »Mir hat er es geschenkt. Und er hat die Worte geschrieben, die schönen Worte. Für mich. Ich bin seine Annabel Lee.« Nun war ihr Lächeln ganz nach innen gekehrt und erfüllt von allem Frieden der Welt. Die Madonnen der italienischen Meister lä­ cheln so, während sie das Kind betrachten. »Zu ihm fahre ich jetzt, Monsieur Royan. Um zu bleiben. Wenn es einen Gott gibt, dann möge er mich vor ihm sterben lassen, denn ich liebe diesen Mann zu sehr, um seinen Tod ertragen zu können. Ist das pathetisch?«

»Gar nicht«, sagte ich, ein wenig geniert. »Es ist ganz ungeheuer pathetisch«, sagte sie lä­ chelnd. »Aber das ist mir egal. Meine ganze Ge­ schichte ist ungeheuer pathetisch, wenn Sie wollen. Ich bin sechsundfünfzig Jahre alt.« Also doch, dach­ te ich. »Die ungeheuer pathetische Liebesgeschich­ te einer alten Frau«, fuhr sie fort und drehte ihr Glas in der Hand. »Wollen Sie sie hören? Sie sind Schriftsteller. Ich schenke Ihnen meine Geschichte. Vielleicht schreiben Sie sie einmal auf?« Ich dachte, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, daß ich, ein Autor der Heftchenserie »Affaire Top­ Secrète« und Drehbuchreparateur, dies jemals tun würde, doch ich nickte und lächelte auch. Und wir tranken beide wieder, und der Zug donnerte weiter durch die Nacht voll Regen und Sturm südwärts, dem Mittelmeer entgegen. Immerhin: Ein Dutzend short stories von mir waren in Zeitschriften, vor al­ lem in »Paris Match«, erschienen. Als Heft­ chenautor führte ich einen Phantasienamen. »Ich möchte gern Ihre Geschichte hören«, sagte ich.

»Gleich als ich Sie kommen sah, vor der Abfahrt in Paris, hatte ich das Gefühl, daß Sie jemand sind, dem ich alles erzählen kann, erzählen will. Ich bin so übervoll von Freude, ich muß meine Geschichte einfach erzählen! Ihnen. Einem Schriftsteller. Sie haben gewiß schon von sehr vielen Menschen Ge­ schichten gehört.«

»O ja, Mrs. Collins«, sagte ich.

»Ich kenne den Mann, zu dem ich fahre, seit elf Jahren«, sagte die ältere Dame, die so jung wirkte, von Seligkeit und Glück erfüllt und wie von einem Panzer umgeben, der alles Böse abhielt. »So lange schon!« sagte ich. »Und wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«

»Vor elf Jahren«, erwiderte Mrs. Collins und lächel­ te das Lächeln der Madonnen.

Im Frühjahr 1972 stiegen Mr. Erskine Collins und seine Frau Roberta im Hotel CARLTON an der Croi­ sette in Cannes ab. Sie kamen für vier Wochen. Am

18. April jährte sich zum fünfundzwanzigsten Mal ihr Hochzeitstag. 1972 war Mrs. Collins fünfundvierzig Jahre alt, ihr Mann einundfünfzig. Er besaß eine bekannte Privatbank in New York und war schon oft in Cannes gewesen - geschäftlich. Seine Frau sah die Stadt mit ihren Palmen, ihren abertausend blü­ henden Sträuchern und Blumen und ihrem weißen Sandstrand zum erstenmal.

Am Abend des 14. April gab der amerikanische Ge­ neralkonsul, der mit seiner Frau eigens aus Mar­ seille gekommen war, ein Diner zu Ehren von Mr. und Mrs. Collins. Dieses Essen fand im PALM BEACH , dem sogenannten Sommercasino von Cannes, statt. Das PALM - BEACH - CASINO war der modernere der beiden großen Spielpaläste. Das Wintercasino, das sich am anderen Ende der Croisette befand, hatte man noch vor dem Ersten Weltkrieg im Plüsch-, Marmor- und Lüsterstil der Jahrhundert­ wende erbaut. (Einige Jahre später wurde es abge­ rissen, und heute steht an seiner Stelle ein Bauwerk von unbeschreiblicher Häßlichkeit - ein paar sich modern gebende Architekten haben sich dort aus­ getobt.)

Beide Casinos verfügten über große Speisesäle, das PALM BEACH dazu noch über die MASQUE DE FER , ein Restaurant im Freien. Die großen Galas des Sommers fanden alle in der MASQUE DE FER statt -ebenso wie das Diner zu Ehren von Mr. und Mrs. Collins. Der Tag war zudem ein Freitag, es wurde also ein Gala-Abend, das heißt, sehr viele Men­ schen versammelten sich in festlicher Kleidung zu Essen, Tanz, einer extravaganten Show und der Musik zweier Kapellen. Ein voller Mond leuchtete am wolkenlosen Himmel und ließ alles, Palmen und Strand, die Häuser der Stadt und die funkelnden Lichter am fernen Esterel-Gebirge, wesenlos und unwirklich, ganz unwirklich werden.

Sie waren zwanzig Personen, und der große, lang­ gezogene Tisch, an dem sie saßen, war der beste, den es im Zentrum der strahlenförmigen Tafelan­ ordnung vor der großen Tanzfläche gab. Wenn die Musiker einmal pausierten, konnte man die am Strand auslaufenden Wellen hören. Vor dem Essen, beim Cocktail, hatte der Generalkonsul, ein alter Freund Erskine Collins', seine Gäste miteinander bekannt gemacht. Da war der Bürgermeister von Cannes mit seiner Frau, da war der bekannteste Anwalt, ebenfalls mit Frau, da war ein Paar aus Schweden, dem Mann gehörten Werften, da war ein Paar aus Deutschland, er Chirurg, da war ein italie­ nisches Aristokratenpaar aus Mailand, ihm gehörten ein Verlag und eine römische Zeitung, da war der Armenier Reuben Alassian, ein alter Herr, der in Nizza ein großes Juweliergeschäft hatte, und da war ein schlanker, breitschultriger Mann mit brau­ nem Haar, scharfgeschnittenen Gesichtszügen, blit­ zenden Zähnen und sehr hellen Augen - er wohnte in dem eine knappe Autostunde entfernten Saint-Paul-de-Vence, einem kleinen, uralten Städtchen, in dem sehr viele Maler lebten und arbeiteten, wie er Mrs. Collins erklärte. Dieser schlanke, große Mann, so erfuhr sie, war ein guter Freund des alten arme­ nischen Juweliers aus Nizza. Er hieß Pierre Mon­ dragon und war auch Maler. Später, beim Essen, saß er neben Mrs. Collins. Mr. Collins saß neben dem amerikanischen Generalkonsul.

Von dem Augenblick an, da ihr Pierre Mondragon vorgestellt worden war, erfüllte Mrs. Collins eine sich immer mehr steigernde Unruhe. Ihr und ihrem Mann zuliebe wurde Englisch geredet - besser oder schlechter. Mondragon beherrschte diese Sprache fließend. Und seit er Mrs. Collins erblickt hatte, schien er niemanden anderen mehr wahrzuneh­ men. Seine hellen Augen waren beständig auf sie gerichtet, er unterhielt sich ausschließlich mit ihr, und nach dem Essen, vor der Show, tanzten die beiden auf der erhöhten großen Fläche direkt am Wasser.