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»Maria? Oh, eine Ewigkeit. Gewiß zwanzig Jah­ re. Ich weiß es schon nicht mehr.«

»Und sonst lebt niemand in diesem Haus?« »Nein«, sagte Mondragon. »Nur Maria und ich.« Die Haushälterin in ihrem schwarzen Kittel kam mit einem Tablett zurück, auf dem Gläser und Fla­ schen sowie ein Becher voller Eiswürfel standen. Mondragon nahm ihr das Tablett ab.

»Danke, Maria. Du kannst gehen.«

»Ist gut, Monsieur.« Sie schlurfte zur Tür. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Mondragon stellte das Ta­ blett ab und bereitete die Drinks. Indessen fragte Mrs. Collins, die ein Leonard-Kleid trug, das in den Farben Grün, Blau, Orange und Weiß gehalten war: »Warum ist sie so traurig?«

»Wer?«

»Maria. Ihre Haushälterin.«

Mondragon lachte. »Traurig? Die ist nicht trau­ rig. Sie sieht nur so aus. Sie ist immerzu in Gedan­ ken, wissen Sie.«

»Was für Gedanken?«

»Das vermag kein Mensch zu sagen. Ich habe sie oft gefragt. Sie hat es mir nie verraten. Eine gute Seele, meine Maria. Nur eben sehr dumm, leider. Was heißt leider? Vielleicht ist das ein Glück. Dumme Menschen haben es leichter im Leben.« Er reichte Mrs. Collins ein Glas.

»Cheerio.«

»Cheerio«, sagte Mrs. Collins.

Sie blieben in dem Zimmer mit den vielen Hähnen. Mondragon erzählte, daß er sehr weite Reisen ma­ che. Auf diesen Reisen sammle er die Elefanten, die Glaskugeln, die Hähne und alles andere. Mrs. Collins Benommenheit wurde noch größer. Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn.

»Fühlen Sie sich nicht gut?«

»Doch, doch. Nur ein wenig schwindlig ...« Mondragon trat zu Mrs. Collins und zog sie zu sich empor. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es fort. Danach hielt er ihren Kopf in beiden Händen und küßte sie hart auf den Mund. Ihre Lip­ pen öffneten sich. Sie stöhnte. Der Kuß dauerte lange. Zuletzt hob Mondragon sie auf wie ein Kind und trug sie zu einer Tür neben dem Kamin, die er öffnete. Er trug Mrs. Collins in ein weißgetünchtes Schlafzimmer, in dem ein sehr großes Bett stand. »Nicht«, sagte Mrs. Collins. »Bitte nicht.« Er legte sie sehr sanft auf das Bett, kniete neben ihr nieder und begann, sie auszuziehen.

»Bitte«, sagte Mrs. Collins. »Bitte, nicht!« Er zog ihr das Leonard-Kleid aus, danach das Hemd.

»Bitte«, sagte Mrs. Collins, »bitte, nicht.« Aber sie wand sich hin und her, um ihm die Arbeit zu erleich­ tern.

Er öffnete ihren Büstenhalter und zog ihr den Slip aus. Sie lag nackt vor ihm. Gleich darauf war auch er nackt.

»Chérie«, sagte er, »chérie, wie schön du bist. So wunderschön.« Er glitt auf das Bett. Sein Kopf ver­ grub sich zwischen ihren Schenkeln.

»Bitte«, sagte Mrs. Collins. »Bitte ...« Tränen ran­ nen über ihr Gesicht, während sie schwer zu atmen begann.

Die Achsen schlugen.

Mrs. Collins hatte ihre Erzählung unterbrochen. Sie saß reglos. Dann, nach einer langen Weile, zog sie die Glanzstoffblende hoch. Die Fensterscheibe war mit Regenschlieren bedeckt. Ab und zu sah man in der Finsternis ein paar Lichter. Die Scheibe spiegel­ te. Mrs. Collins preßte die Stirn gegen das Glas, während sie weitersprach.

»Ich werde meinen Mann vergessen. Ich werde Va­ ter und Mutter vergessen. Ich werde alles ver­ gessen. Nur niemals diesen Nachmittag. An diesem Nachmittag erst wurde ich zur Frau. Mit fünfund­ vierzig Jahren erfuhr ich, was eine Frau bei einem Mann empfinden kann. Niemals zuvor hatte ich mir das auch nur in der Phantasie vorzustellen ver­ mocht. Niemals zuvor hatte ich solche Gefühle er­ lebt - bei meinen beiden Freunden nicht, bei meinem Mann nicht, niemals, nein, niemals. Pierre war ein wundervoller Liebhaber, zärtlich und brutal, sanft und wild. Er war es, der mich zum wirklichen Leben erweckte - mit fünfundvierzig Jahren ...« Sie wandte sich um und sah mich an, und da waren Tränen in ihren Augen - wie an jenem Nachmittag vor elf Jahren. Sie wischte die Tränen mit einem Handrücken fort und lächelte. »Ich bin schamlos, nicht wahr?«

»Aber nein, Madame, ich bitte Sie ...«

»Ich bin schamlos, weil ich Ihnen, einem Fremden, das alles erzähle. Ich war noch viel schamloser da­ mals, bei ihm. Es war mir egal. Bitte, geben Sie mir noch etwas zu trinken.«

Ich füllte ihr Glas, und sie leerte es zügig. Sie sagte: »Ich hatte keine Schuldgefühle - damals nicht, später nicht, heute nicht. Sie sind Schriftstel­ ler, Sie werden mich verstehen.«

Ich antwortete nicht.

Stunden später zeigte Pierre Mondragon Mrs. Col­ lins dann sein Atelier und seine Arbeiten. Die Erre­ gung war bei beiden abgeklungen. Sie waren ernst und sprachen wenig miteinander. Das Atelier erwies sich als ungemein großer Raum. Eine Seite war ganz aus Glas. Sehr viele Bilder standen auf Staffe­ leien, lehnten an den Wänden, hingen dort oder lagen auf Tischen.

Mrs. Collins ging langsam durch den Raum, blieb stehen, ging weiter, blieb wieder stehen. Sie sah die Bilder genau an. Sie waren in verschiedenen Tech­ niken gemalt. Mrs. Collins fand alle Bilder schlecht - ohne jede Begabung, dilettantisch fast. »Wie gefallen dir meine Sachen, chérie?« fragte Mondragon.

»Oh, sehr.«

»Also überhaupt nicht«, sagte er.

»Nein, darling«, sagte Mrs. Collins.

Er schwieg.

»Verzeih!« sagte sie und küßte ihn auf die Wange. »Die meisten Leute mögen meine Bilder nicht«, sagte Mondragon.

»Es ist nicht so, daß ich sie nicht mag. Ich finde nur ... Was ich meine, ist ...«

»Ja, ja«, unterbrach sie Mondragon. »Schon gut. Zum Glück gibt es Ausnahmen, die mögen und kau­ fen meine Bilder. Ich kann nur so malen, wie ich male, chérie, siehst du ...« Er brach ab, denn sie hatte einen kleinen Schrei ausgestoßen. Nun wies sie auf ein Stück Karton von der Größe einer Postkarte, das auf einem der Tische lag. »Das hast du auch gemalt?«

»Was?« Er fuhr sich durchs Haar. »Das Man­ delbäumchen? Ja, natürlich habe ich das auch ge­ malt.« Er trat neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. »Gefällt es dir?«

Mrs. Collins grüne Augen funkelten vor Entzücken. Sie sah unverwandt das kleine, in leuchtenden Far­ ben gemalte Bild an. Schwarz waren die dünnen Äste, die kleinen Blätter braunrot, die vielen Blüten

hellrosa. Ein angedeuteter blauer Himmel schwamm über dem Bäumchen. Noch nie, dachte Mrs. Collins, habe ich etwas so Befreiendes, Be­ glückendes und Liebenswertes gesehen. »Das ... das ist wunderbar, Pierre«, sagte sie ein wenig atemlos. »Ganz wunderbar. Ich kann gar nicht glauben ...« Sie brach ab und wiederholte: »Ganz wunderbar.«

Er küßte sie. Dann nahm er eine breite Tuschfeder, drehte das kleine Bild um und begann, auf die Rückseite zu schreiben.

»Das ist nicht von mir, das ist von Poe«, sagte er dazu. »Es fiel mir eben ein.« Er hob die Karte mit dem Mandelbäumchen auf und reichte sie ihr. »Du bist für mich Annabel Lee.«

»Weder die Engel im Himmel noch die Teufel tief unter der See können jemals trennen meine Seele von der schönen Annabel Lee«, wiederholte Mrs. Collins meine Übersetzung der englischen Worte auf der Karte ins Französische. Das kleine Bild, das sie mir vorhin gezeigt und das auf der Mahagoni­ platte des Waschtisches in der Ecke ihres Schlaf­ wagenabteils gelegen hatte, hielt sie nun wieder in der Hand. »Dies ist das Mandelbäumchen, das ich damals bei ihm sah«, sagte sie. »An jenem Nach­ mittag. Da schrieb er auch diese Worte. Seither bin ich Annabel Lee für ihn. Seit elf Jahren. Ich habe das Bild immer in meiner Nähe gehabt, wenn mög­ lich, bei mir. Es ist der Talisman unserer Liebe.« Sie strich zärtlich über die rosigen Blüten. Langsam sagte sie: »Und immer noch kann ich kaum glau­ ben, daß er das gemalt hat. Er hat es gemalt! Aber wenn Sie seine anderen Bilder gesehen hätten ... Wie ein Wunder ist dieses Bild. Ach, aber dann ist unsere ganze Liebe ein Wunder.« Sie legte die Kar­ te auf die Mahagoniplatte.