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Zehn Jahre früher hätte er den anderen Weg gehen können, hätte in dem anonymen Regierungsgebäude am Cambridge Circus, dem Rondell, einen Schreibtischposten einnehmen und so lange behalten können, bis er weiß Gott wie alt geworden wäre. Aber er war nicht von dieser Sorte. Ebensogut, wie man von Leamas erwarten konnte, dass er seine Außenarbeit gegen das einseitige Theoretisieren und das verstohlene Selbstinteresse Whitehalls eintauschen würde, hätte man einen Jockey ersuchen können, Angestellter bei der Wettannahme zu werden. Im vollen Bewußtsein, dass die Personalabteilung seinen Akt bereits für die Überprüfung am Ende eines jeden Jahres vorgemerkt hatte, war er in Berlin geblieben: eigensinnig, trotzig, unempfänglich für Belehrungen, immer in der Hoffnung, dass sich irgend etwas ergeben würde. Geheimdienstarbeit kennt nur einen moralischen Grundsatz - sie wird allein durch ihre Resultate gerechtfertigt. Selbst die Sophisterei Whitehalls ehrte dieses Gesetz - Leamas erzielte Resultate. Bis Mundt kam.

Es war seltsam, wie schnell Leamas begriffen hatte, dass Mundts Erscheinen ein böses Vorzeichen für ihn war.

Hans-Dieter Mundt, vor zweiundvierzig Jahren in Leipzig geboren: Leamas kannte seinen Akt, kannte das Lichtbild auf der Innenseite des Einbanddeckels, dies leere, harte Gesicht unter dem strohblonden Haar. Er wußte die Geschichte von Mundts Aufstieg zur Macht, zum zweiten Mann in der »Abteilung« und zum eigentlichen Leiter der Operationen auswendig. Mundt war sogar innerhalb seines Amtes verhaßt.

Leamas wußte all dies aus den Aussagen von Überläufern und von Riemeck, der als Mitglied des SED-Präsidiums gemeinsam mit Mundt in verschiedenen Sicherheitsausschüssen saß und ihn fürchtete. Zu Recht, wie sich später herausstellte, als Mundt ihn umbringen ließ.

Bis 1959 war Mundt in der »Abteilung« ein untergeordneter Funktionär gewesen, der in London unter dem Deckmantel der ostdeutschen Stahlmission operierte. Nachdem er zwei seiner besten Agenten ermordet hatte, um seine eigene Haut zu retten, kehrte er Hals über Kopf nach Ostdeutschland zurück, und länger als ein Jahr hörte man nichts mehr von ihm. Ganz plötzlich tauchte er im Leipziger Hauptquartier der »Abteilung« wieder auf, und zwar als Verantwortlicher für die Zuteilung von Geldmitteln, Ausrüstungsmaterial und Personal für Sonderaufgaben. Am Ende desselben Jahres fand der große Machtkampf innerhalb der »Abteilung« statt. Zahl und Einfluß der sowjetischen Verbindungsoffiziere wurden drastisch reduziert, man baute einige von der alten Garde aus ideologischen Gründen ab, und drei neue Männer stiegen auf: Fiedler als Chef der Abwehr, Jahn, der das Zuteilungsamt von Mundt übernahm, und - mit einundvierzig Jahren zum stellvertretenden Leiter der Operationen ernannt - Mundt selbst, der damit den größten Sprung getan hatte. Dann begann der neue Stil. Der erste Agent, den Leamas verlor, war ein Mädchen. Sie war nur ein kleines Glied in der Kette; sie wurde bei Kurierdiensten eingesetzt. Sie erschossen sie auf der Straße, als sie ein Westberliner Kino verließ. Die Polizei fand den Mörder nie, und Leamas neigte anfangs zu der Annahme, dass der Vorfall nicht im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit stand. Einen Monat später fand man einen ehemaligen Agenten aus Peter Guillams Netz - einen Dresdner Gepäckträger - tot und verstümmelt neben einem Eisenbahngleis. Leamas wußte, dass dies kein Zufall mehr war. Bald darauf wurden zwei Mitglieder unter Leamas' Kontrolle verhaftet und kurz und bündig zum Tode verurteilt. So ging es weiter: erbarmungslos und entnervend. Und jetzt hatten sie Karl, und Leamas verließ Berlin so, wie er gekommen war -ohne einen einzigen Agenten, der einen Groschen wert gewesen wäre. Mundt hatte gewonnen.

Leamas war ein kleiner Mann mit dichtem eisengrauen Haar und der Statur eines Schwimmers. Er war sehr kräftig, wie man an seinem Rücken und an seinen Schultern erkennen konnte, an seinem Nacken und den klobigen Händen und Fingern.

In Fragen der Kleidung ging er ebenso wie bei den meisten anderen Dingen allein vom Standpunkt der Nützlichkeit aus, und so hatte selbst die Brille, die er gelegentlich trug, eine stählerne Fassung. Er trug meist Anzüge aus Kunstfaserstoff, von denen keiner eine Weste besaß. Er bevorzugte Hemden mit Knöpfen auf den Kragenspitzen und weiche Lederschuhe mit Gummisohlen. Sein markantes Gesicht mit dem eigensinnigen Zug um den schmalen Mund wirkte anziehend. Seine Augen waren braun und klein, manche Leute sagten, sie seien irisch. Wäre er in einen Londoner Klub hineinspaziert, so hätte der Pförtner sicherlich nicht den Irrtum begangen, ihn für ein Mitglied zu halten. In einem Berliner Nachtklub gab man ihm gewöhnlich den besten Tisch. Er sah wie ein Mann aus, der Schwierigkeiten machen konnte, der auf sein Geld sah und nicht ganz ein Gentleman war. Die Stewardeß im Flugzeug dachte, dass er interessant sei. Sie tippte darauf, dass er aus Nordengland stamme, was möglich gewesen wäre und dass er reich sei, was er nicht war. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre, was ungefähr stimmte. Sie nahm an, dass er ledig sei, was nur halb der Wahrheit entsprach. Irgendwo, vor langer Zeit, hatte es eine Scheidung gegeben; irgendwo gab es inzwischen halbwüchsige Kinder, die ihr Taschengeld von einer etwas seltsamen Privatbank in der City bekamen.

»Wenn Sie noch einen Whisky wünschen«, sagte die Stewardeß, »wäre es besser, Sie würden sich beeilen. Wir werden auf dem Londoner Flugplatz in zwanzig Minuten landen.«

»Keinen mehr.« Er schaute sie nicht an; er blickte aus dem Fenster auf die graugrünen Felder von Kent.

Fawley holte ihn vom Flugplatz ab und fuhr ihn nach London.

»Der Chef ist ziemlich verärgert wegen Karl«, sagte er und schaute Leamas von der Seite an. Leamas nickte. »Wie geschah es?« fragte Fawley. »Er wurde abgeschossen. Mundt erwischte ihn.« »Tot?«

»Ich denke schon, inzwischen. Das wäre das beste für ihn. Er schaffte es fast. Er hätte nie Eile zeigen dürfen, sie konnten ja nicht sicher sein. Die ›Abteilung‹ erreichte den Kontrollpunkt erst, als man ihn gerade durchgelassen hatte. Sie setzten die Sirene in Gang, und ein Vopo schoß auf ihn, zehn Meter vor der Linie. Auf dem Boden bewegte er sich noch etwas, dann lag er still.«

»Armer Kerl.«

»Genau«, sagte Leamas.

Fawley mochte Leamas nicht, und wenn Leamas das wußte, so war es ihm gleichgültig. Fawley war ein Mann, der als Mitglied verschiedenen Klubs angehörte und repräsentative Krawatten trug. Er traf gern endgültige Feststellungen über das Können von Sportlern und legte Wert darauf, dass man ihn im internen Dienstverkehr mit seinem Rang anredete. Er betrachtete Leamas als verdächtig, während dieser ihn für einen Esel hielt.

»Welcher Abteilung gehören Sie an?« fragte Leamas.

»Personal.«

»Gefällt's Ihnen?«

»Faszinierend.«

»Wohin komme ich jetzt? Auf Eis?«

»Besser, Sie warten, bis es der Chef Ihnen sagt, alter Junge.«

»Wissen Sie es?«

»Freilich.«

»Weshalb sagen Sie es mir dann nicht, zum Teufel?«

»Tut mir leid, alter Junge«, antwortete Fawley, und Leamas war plötzlich nahe daran, seine Beherrschung zu verlieren. Dann sagte er sich, dass Fawley ihn höchstwahrscheinlich ohnehin anlügen würde.

»Gut, aber sagen Sie mir eines, wenn's Ihnen nichts ausmacht: Muß ich mich in London um eine Wohnung kümmern?«

Fawley kratzte sich am Ohr. »Ich glaube nicht, alter Junge, nein.«

»Nein? Gott sei Dank.«

Sie stellten den Wagen unweit des Cambridge Circus an einer Parkuhr ab und betraten gemeinsam das Gebäude.

»Sie haben keinen Passierschein, nicht wahr? Es wäre besser, Sie füllten einen Zettel aus.«

»Seit wann müssen wir Passierscheine haben? McCall kennt mich so gut wie seine eigene Mutter.«

»Neue Anweisung. Das Rondell wächst, wissen Sie.«