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Wesentlicher als die formalen Schwierigkeiten der Gestaltung waren andere, mehr persönlicher Natur. Jung äußerte sich darüber in einem Brief an einen Freund aus seiner Studentenzeit. Dieser hatte ihn gebeten, seine Jugenderinnerungen aufzuzeichnen. Der Briefwechsel fand Ende 1957 statt.

«.. .Du hast ganz recht! Wenn man alt ist, wird man in Ju genderinnerungep zurückgeholt von Innen und von Außen. Schon vor dreißig Jahren wurde ich einmal von meinen Schülern veranlaßt, eine Darstellung davon zu geben, wie ich zu meiner Auffassung des Unbewußten gelangt sei. Ich habe dies damals in Form eines Seminars getan. In letzter Zeit wurde ich verschiedentlich angeregt, etwas wie eine .Autobiographie' von mir zu geben. So etwas konnte ich mir schon gar nicht vorstellen. Ich kenne zu viele Autobiographien und deren Selbsttäuschungen und Zwecklügen und weiß zuviel von der Unmöglichkeit einer Selbstbeschreibung, als daß ich es wagen könnte, selbst Versuche in dieser Hinsicht anzustellen.

Neuerdings bin ich nun nach autobiographischen Informationen ausgefragt worden und habe bei dieser Gelegenheit entdeckt, daß in meinem Erinnerungsmaterial gewisse objektive Probleme stecken,

die einer genaueren Betrachtung wohl würdig wären. Demgemäß habe ich über die Möglichkeit nachgedacht und bin zum Schluß gekommen, mir meine anderen Obliegenheiten soweit vom Halse zu halten, daß es mir gelingen möge, wenigstens die allerersten Anfänge meines Lebens einer objektiven Betrachtung zu unterwerfen. Diese Aufgabe ist so schwierig und ungewöhnlich, daß ich mir zunächst versprechen mußte, die Resultate zu meinen Lebzeiten nicht zu veröffentlichen. Diese Maßnahme schien mir nötig, um mir die Ruhe und Distanz zu sichern. Ich habe nämlich gesehen, daß alle jene Erinnerungen, die mir lebendig geblieben sind, emotionale Erlebnisse betreffen, welche den Geist in Unruhe und Leidenschaft versetzen; eine sehr ungünstige Vorbedingung für eine objektive Darstellung! Dein Brief kam .natürlich' in dem Moment, wo ich mich sozusagen entschlossen hatte, die Sache in Angriff zu nehmen.

Das Schicksal will es nun - wie es immer gewollt hat - daß in mein em Leben alles Äußere akzidentell ist, und nur das Innere als substanzhaft und bestimmend gilt. Infolgedessen ist auch alle Erinnerung an äußere Geschehnisse blaß geworden, und vielleicht waren die ,äußeren' Erlebnisse auch nie ganz das Eigentliche oder waren es nur insofern, als sie mit inneren Entwicklungsphasen zusammenfielen. Von diesen .äußeren' Manifestationen meines Daseins ist mir unendlich vieles entschwunden, eben darum, weil ich, wie mir schien, mit allen Kräften daran teilgenommen hatte. Dies sind aber die Dinge, welche eine verständliche Biographie ausmachen: Personen, die einem begegnet sind, Reisen, Abenteuer, Verwicklungen, Schicksalsschläge und dergleichen mehr. Sie sind aber mit wenig Ausnahmen zu eben noch erinnerbaren Schemen geworden, die meine Phantasie zu keinen Anstrengungen mehr beflügeln können.

Umso lebhafter und farbiger ist meine Erinnerung an die .inneren' Erlebnisse. Hier aber stellt sich ein Problem der Darstellung, dem ich mich kaum gewachsen fühle, wenigstens vorderhand noch nicht. Leider kann ich aus diesen Gründen auch Deinen Wunsch nicht erfüllen, was ich sehr bedaure ...»

Dieser Brief charakterisiert Jungs Einstellung; obwohl er sich bereits «entschlossen hatte, die Sache in Angriff zu nehmen», endet der Brief mit einer Absage! Der Konflikt zwischen Bejahung und Ablehnung ist bis zu seinem Tode nie ganz zur Ruhe gekommen.

Immer blieb ein Rest Skepsis, und es blieb die Scheu vor der zukünftigen Leserschaft. Er betrachtete das Erinnerungsbuch nicht als ein wissenschaftliches Werk und auch nicht als ein Buch von ihm, sondern er sprach und schrieb von «Aniela Jaffés Unternehmung», zu der er Beiträge geliefert habe. Auf seinen Wunsch wird es nicht in die Reihe der «Gesammelten Werke» aufgenommen.

Besonders zurückhaltend war Jung in den Berichten über Begegnungen, sei es mit bekannten Persönlichkeiten, sei es mit nahestehenden Menschen, seinen Freunden. «Ich habe mit vielen berühmten Menschen meiner Zeit gesprochen, mit den Großen der Wissenschaft und Politik, mit Forschungsreisenden, Künstlern und Schriftstellern, Fürstlichkeiten und Finanzgrößen, aber wenn ich ehrlich bin, muß ich sagen, daß nur wenige solcher Begegnungen mir zum Erlebnis geworden sind. Wir waren wie Schiffe auf hoher See, die gegenseitig die Flagge senkten. Meist hatten diese Menschen auch ein Anliegen an mich, das ich nicht erwähnen kann oder darf. So blieben keine Erinnerungen, unbekümmert darum, was sie als Persönlichkeiten in den Augen der Welt darstellten. Die Begegnungen waren ereignislos; sie verblaßten bald und blieben ohne tiefere Folgen. Von den Beziehungen, die mir etwas bedeuteten, und die an mich kamen wie Erinnerungen an ferne Zeiten, kann ich nicht erzählen, denn sie waren nicht nur mein innerstes Leben, sondern auch das ihre. Es steht mir nicht zu, jene für immer geschlossenen Türen den Blicken der Welt zu öffnen.»

Der Mangel an äußeren Daten und an Vollständigkeit wird jedoch durch anderes reichlich aufgewogen - durch den Bericht über innere Erlebnisse Jungs und durch eine Fülle von Gedanken, welche, wie er selber sagte, als biographisch bezeichnet werden müssen. Sie sind in hohem Maße typisch für ihn und bildeten das Fundament seines Lebens. Das gilt in erster Linie von den religiösen Gedanken. Das Buch enthält Jungs religiöses Bekenntnis.

Es waren mannigfache Wege, auf denen Jung zur Auseinandersetzung mit den religiösen Fragen geführt wurde: eigene Erfahrungen, die ihn schon als Kind in die Wirklichkeit des religiösen Erlebens gestellt und ihn bis an sein Lebensende begleitet hatten;

ein unbändiger Erkenntnisdrang, der alles ergriff, was mit der Seele, ihren Inhalten und Manifestationen zusammenhing und ihn als Wissenschaftler kennzeichnete und - last but not least - sein ärztliches Gewissen. Jung fühlte sich in erster Linie als Arzt. Es

war ihm nicht entgangen, daß die religiöse Einstellung bei der Therapie des seelisch leidenden Menschen eine entscheidende Rolle spielt. Dies deckte sich mit seiner Erkenntnis, daß die Seele spontan Bilder religiösen Inhalts hervorbringe, daß sie mithin «von Natur aus religiös» sei. Ein Abweichen von dieser ihrer Grundnatur wurde von Jung als Ursache zahlreicher Neurosen, besonders in der zweiten Lebenshälfte, erkannt.

Jungs Begriff des Religiösen unterscheidet sich in manchem vom traditionellen Christentum. Vor allem in seiner Antwort auf die Frage nach dem Bösen und in der Vorstellung eines nicht nur guten oder «lieben» Gottes. Vom Gesichtspunkt des dogmatischen Christentums aus war Jung ein Outsider. Dies hat er in den Reaktionen auf sein Werk, bei allem Weltruhm, immer wieder zu spüren bekommen. Er hat darunter gelitten, und auch in die Zeilen dieses Buches mischt sich hie und da die Enttäuschung des Forschers, der sich in seinen religiösen Gedanken nicht restlos verstanden fühlte. Mehr als einmal ließ er sich mit grimmiger Betonung vernehmen:

«Im Mittelalter hätte man mich verbrannt!» Erst nach seinem Tode mehren sich die Stimmen der Theologen mit der Feststellung, Jung sei aus der Kirchengeschichte unseres Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken.

Jung bekannte sich ausdrücklich zum Christentum, und die bedeutendsten seiner Werke handeln von den religiösen Fragen des christlichen Menschen, die er vom Gesichtspunkt der Psychologie und in bewußter Abgrenzung von der theologischen Fragestellung aus betrachtete. Indem er dies tat, stellte er der christlichen Forderung des Glaubens die Notwendigkeit des Verstehens und Nachdenkens gegenüber. Für ihn war das Selbstverständlichkeit und Lebensnotwendigkeit. «Ich finde, daß alle meine Gedanken um Gott kreisen wie die Planeten um die Sonne und wie diese von Ihm als der Sonne unwiderstehlich angezogen sind. Ich müßte es als gröbste Sünde empfinden, wenn ich dieser Gewalt Widerstand entgegensetzen sollte», schrieb er 1952 einem jungen Ordensgeistlichen.