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In seinem Erinnerungsbuch spricht Jung zum ersten und einzigen Mal von Gott und von seiner persönlichen Erfahrung Gottes. In den Tagen, als er über seine jugendliche Auflehnung gegen die Kirche schrieb, sagte er einmaclass="underline" «Damals wurde mir klar, daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten unmittelbaren Erfahrungen war.» In seinem wissenschaftlichen Werk spricht Jung nicht von Gott, sondern vom «Gottesbild in der menschlichen Seele». Das ist kein Widerspruch, sondern das eine Mal die subjektive, auf Erleben beruhende, und das andere Mal die objektiv-wissenschaftliche Aussage. Einmal spricht der Mensch, an dessen Gedanken auch ein leidenschaftliches Gefühl, Intuition und die inneren und äußeren Erfahrungen eines langen und reichen Lebens beteiligt sind. Das andere Mal redet der Forscher, dessen Aussagen die erkenntnistheoretische Grenze nicht überschreiten, sondern sich bewußt auf Fakten und auf das Beweisbare beschränken. Als Wissenschaftler war Jung Empiriker. Wenn er für sein Erinnerungsbuch von seinen persönlichen religiösen Gefühlen und Erfahrungen erzählte, so setzte er die Bereitwilligkeit der Leser voraus, ihm auf dem Wege seiner subjektiven Erlebnisse zu folgen. Aber nur derjenige kann und wird Jungs subjektive Aussage auch für sich als gültig anerkennen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Anders ausgedrückt: dessen Bild von Gott in seiner Seele ähnliche oder gleiche Züge trägt.

So positiv und aktiv sich Jung an der Gestaltung der «Autobiographie» beteiligte, so kritisch und negativ stand er, begreiflicherweise, lange Zeit der Frage ihrer Publikation gegenüber. Er scheute die Reaktion des Publikums, nicht zuletzt wegen der Offenheit, mit der er seine religiösen Erlebnisse und Gedanken preis gegeben hatte. Die Anfeindungen, welche er auf sein Buch «Antwort auf Hiob» hin erfahren hatte, waren noch zu nahe, und das Unverständnis und Mißverstehen der Welt zu schmerzlich. «Ich habe dieses Material mein Leben lang gehütet und nie an die Welt kommen lassen wollen; denn wenn daran etwas passiert, ist man noch mehr getroffen als bei anderen Büchern. Ich weiß nicht, ob ich schon so weit weg von dieser Welt sein werde, daß die Pfeile mich nicht mehr erreichen und ich die negativen Reaktionen werde ertragen können. Ich habe genug am Unverstand gelitten_und_an der Isolierung, in die man kommt, wenn man Sachen sagt, die die Menschen nicht verstehen. Wenn schon das Hiob-Buch auf so viel Unverständnis gestoßen ist, so werden meine Erinnerungen noch viel negativer wirken. Die .Autobiographie" ist mein Leben, betrachtet im Lichte dessen, was ich erarbeitet habe. Das eine ist das andere, und damit ist die Lektüre dieses Buches schwierig für Menschen, die meine Gedanken nicht kennen oder nicht verstehen. Mein Leben ist in gewissem Sinne die Quintessenz dessen, was ich geschrieben habe und nicht umgekehrt. Wie ich bin, und wie

ich schreibe, ist Eines. Alle meine Gedanken und mein ganzes Streben, das bin ich. So ist die »Autobiographie' nur noch das Pünktchen auf dem i.»

Während der Jahre, in denen das Erinnerungsbuch Gestalt annahm, vollzog sich in Jung eine Art Wandlungs- und Objektivierungsprozeß. Mit jedem Kapitel distanzierte er sich sozusagen weiter von sich selber und sah sich, sowie die Bedeutung seines Lebens und Werkes, schließlich wie von ferne. «Wenn ich nach dem Werte meines Lebens frage, so kann ich mich nur messen an den Gedanken der Jahrhunderte, und da muß ich sagen: Ja, es bedeutet etwas. Gemessen an den Gedanken von heute bedeutet es nichts.» Das Unpersönliche dieser Aussage, sowie das Gefühl für historische Kontinuität, die aus diesen Worten sprechen, sind charakteristisch für Jung. Beides tritt im Verlaufe der einzelnen Kapitel noch stärker hervor.

In der Tat ist das Erinnerungsbuch Jungs mit seinen wissenschaftlichen Gedanken eng verwoben. Es gibt aber wohl kaum eine bessere Einführung in die Geisteswelt eines Forschers als die Erzählung, wie er zu seinen Gedanken gekommen ist, und den Bericht über das, was an subjektivem Erleben hinter seinen Erkenntnissen steht. Den Zweck einer gefühlsmäßigen Einführung erfüllt Jungs «Autobiographie» in hohem Maße.

Das Kapitel «Zur Entstehung des Werkes» ist ebenfalls Fragment. Wie könnte es anders sein bei einem mehr als zwanzig Bände umfassenden Gesamtwerk? Auch hätte sich Jung nie bereit gefunden, eine zusammenfassende Übersicht seiner Gedankenwelt zu geben - weder im Gespräch, noch als eine von ihm verfaßte Schrift. Als er einmal dazu aufgefordert wurde, schrieb er in seiner charakteristischen, etwas drastischen Art: «. . . ich muß schon sagen, daß etwas Derartiges gänzlich außerhalb meiner Reichweite liegt. Ich könnte es einfach nicht zustande bringen, das, was ich mit soviel Mühe ausführlich dargestellt habe, in einer kürzeren Form herauszubringen. Ich müßte ja das ganze Beweismaterial draußen lassen und könnte mich nur eines apodiktischen Stiles befleißigen, was die Schwerverständlichkeit meiner Resultate in keiner Weise erleichtern würde. Die für die Familie der Zweihufer charakteristische ruminative Tätigkeit, welche in der Regurgitation des schon Gefressenen besteht, ist für mich das Gegenteil von Appetit erregend . . .»

Der Leser möge also das Kapitel «Zur Entstehung des Werkes» lediglich als einen durch den Augenblick bestimmten Rückblick des alten Meisters auffassen und auf sich wirken lassen.

Das kurze Glossar, das ich auf Wunsch der Verleger dem Buche folgen lasse, vermittelt dem mit Jungs Werk und Terminologie nicht Vertrauten einige einführende Erklärungen. Wenn immer möglich habe ich die Begriffe der Jungschen Psychologie durch Zitate aus seinen Werken umschrieben. Die Zitate können jedoch nur als hinweisende Apercus aufgefaßt werden. Jung hat die von ihm gebrauchten Begriffe immer wieder neu und anders umschrieben und das Unerklärbare, das der psychischen Wirklichkeit anhaftet, als Rätsel oder Geheimnis belassen.

Es sind viele, die mir bei der ebenso schönen wie schwierigen Aufgabe geholfen haben. Sei es, daß sie das langsame Werden mit Interesse begleiteten, sei es, daß sie durch Anregung und Kritik die Arbeit förderten. Ihnen allen gilt mein Dank. Genannt seien an dieser Stelle nur Helene und Kurt Woiff, Locarno, welche der Idee des Buches zur Verwirklichung verhalfen, Marianne und Walther Niehus-Jung, Küsnacht ZH, die mir während der Jahre des Entstehens mit Rat und Tat zur Seite standen, sowie Richard F. C. Hüll, Palma de Mallorca, der mich mit nie erlahmender Geduld hilfreich beriet.

Dezember 1961 Amela Jaffe

Prolog

Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewußten. Alles, was im Unbewußten liegt, will Ereignis werden, und auch die Persönlichkeit will sich aus ihren unbewußten Bedingungen entfalten und sich als Ganzheit erleben. Um diesen Werdegang bei mir darzustellen, kann ich mich nicht der wis senschaftlichen Sprache bedienen; denn ich kann mich nicht als wissenschaftliches Problem erfahren.

Was man der inneren Anschauung nach ist, und was der Mensch sub specie aeternitatis zu sein scheint, kann man nur durch einen Mythus ausdrücken. Er ist individueller und drückt das Leben genauer aus als Wissenschaft. Sie arbeitet mit Durchschnittsbegriffen, die zu allgemein sind, als daß sie der subjektiven Vielfalt eines einzelnen Lebens gerecht werden könnten.

So habe ich es heute, in meinem dreiundachtzigsten Lebensjahr, unternommen, den Mythus meines Lebens zu erzählen. Ich kann jedoch nur unmittelbare Feststellungen machen, nur «Geschichten erzählen». Ob sie wahr sind, ist kein Problem. Die Frage ist nur, ist es mein Märchen, meine Wahrheit?

Das Schwierige an der Gestaltung einer Autobiographie liegt darin, daß man keinen Maßstab besitzt, keinen objektiven Boden, von dem aus man urteilen könnte. Es gibt keine richtigen Vergleichsmöglichkeiten. Ich weiß, daß ich in vielem nicht bin wie andere, ich weiß aber nicht, wie ich wirklich bin. Der Mensch kann sich mit nichts vergleichen: er ist kein Affe, keine Kuh, kein Baum. Ich bin ein Mensch. Aber was ist das? Wie jedes Wesen bin auch ich von der unendlichen Gottheit abgespalten, aber ich kann mich mit keinem Tier konfrontieren, mit keiner Pflanze und keinem Stein. Nur ein mythisches Wesen reicht über den Menschen hinaus. Wie kann man da über sich irgendwelche definitiven Meinungen haben?