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Während meine Mutter fort war, hat sich auch unser Mädchen meiner angenommen. Ich weiß noch, wie sie mich auf den Arm hob und ich den Kopf an ihre Schulter legte. Sie hatte schwarze Haare und einen olivenfarbenen Teint und war ganz anders als meine Mutter. Ich erinnere mich an den Haaransatz, den Hals mit der stark pigmentierten Haut und das Ohr. Das kam mir so fremdartig vor und doch so merkwürdig bekannt. Es war, als gehörte sie nicht zu meiner Familie, sondern nur zu mir, und als hinge sie auf eine mir unbegreifliche Weise mit anderen geheimnisvollen Dingen zusammen, die ich nicht verstehen konnte. Der Typus des Mädchens wurde später zu einem Aspekt meiner Anima. Das Gefühl des Fremden und doch Urbekannten, das sie vermittelte, war das Charakteristikum jener Figur, die mir später den Inbegriff des Weiblichen darstellte.

In die Zeit der Trennung meiner Eltern fällt noch ein anderes Erinnerungsbild: Ein junges, sehr hübsches, liebenswürdiges Mädchen mit blauen Augen und blondem Haar führt mich an einem blauen Herbsttag unter goldenen Ahorn - und Kastanienbäumen spazieren. Wir gingen den Rhein entlang unterhalb des Wasserfalls beim Schlößchen Wörth. Die Sonne schien durch das Laub, und goldene Blätter lagen am Boden. Das junge Mädchen ist später meine Schwiegermutter geworden. Sie bewunderte meinen Vater. Erst mit einundzwanzig Jahren habe ich sie wieder gesehen.

Das sind meine «äußeren» Erinnerungen. Was jetzt folgt, sind stärkere, ja überwältigende Dinge, an die ich mich zum Teil nur dunkel erinnere: ein Sturz die Treppe hinunter, ein Fall gegen das kantige Ofenbein. Ich erinnere mich an Schmerzen und Blut, ein Arzt näht mir eine Kopfwunde, deren Narbe noch bis in meine späte Gymnasialzeit sichtbar war. Meine Mutter erzählte mir, daß ich einmal mit der Magd über die Rheinfallbrücke nach Neuhausen ging, plötzlich hinfiel und mit einem Bein unter das Geländer glitt. Das Mädchen konnte mich gerade noch erwischen und zurück

reißen. Diese Dinge weisen auf einen unbewußten Selbstmorddrang. beziehungsweise auf einen fatalen Widerstand gegen das Leben in dieser Welt.

Es bestanden damals unbestimmte Ängste in der Nacht. Es gingen Dinge um. Immer hörte man das dumpfe Tosen des Rheinfalls, und darum herum lag eine Gefahrenzone. Menschen ertranken, eine Leiche fiel über die Felsen. Auf dem nahen Gottesacker macht der Meßmer ein Loch; braun aufgeschüttete Erde. Schwarze feierliche Männer in Gehröcken, mit ungewohnten hohen Hüten und blankgewichsten schwarzen Schuhen bringen eine schwarze Kiste. Mein Vater ist auch dabei im Talar und spricht mit hallender Stimme. Frauen weinen. Es heißt, man begrabe jemanden in diese Grube hinunter. Man sah gewisse Leute plötzlich nicht mehr, die vorher da gewesen waren. Ich hörte, sie seien begraben oder der «her Jesus» habe sie zu sich genommen.

Meine Mutter hatte mich ein Gebet gelehrt, das ich jeden Abend beten mußte. Ich tat es auch gern, weil es mir ein gewisses komfortables Gefühl gab in Hinsicht auf die unbestimmten Unsicherheiten der Nacht:

Breit aus die Flügel beide,

0 Jesu meine Freude

Und nimm dein Küchlein ein .

Will Satan es verschlingen,

So laß die Englein singen:

Dies Kind soll unverletzet sein.

«Dr her Jesus» war komfortabel, ein netter wohlwollender «her» wie der «her» Wegenstein im Schloß — reich, mächtig, angesehen und achtsam in bezug auf Kinder in der Nacht. Warum er geflügelt sein sollte wie ein Vogel, war ein kleines Wunder, das mich aber nicht weiter störte. Viel bedeutsamer und Anlaß zu vielen Betrachtungen war aber die Tatsache, daß kleine Kinder mit «Chüechli»1 verglichen wurden, welche von dem «h er Jesus» offenbar nur widerwillig wie eine bittere Medizin «eingenommen» wurden. Das war mir schwer verständlich. Ich begriff aber ohne weiteres, daß Satan die Chüechli gern hatte und darum verhindert werden mußte, sie zu verschlingen. Obschon also der «h er Jesus» sie nicht mag, so ißt er sie dennoch dem Satan weg. Soweit war

* Schweizer Dialekt: kleine Kuchen.

mein Argument «komfortabel». Nun aber hieß es auch, daß der «her Jesus» überhaupt auch andere Leute «zu sich nähme», was mit Verlochung in der Erde gleichbedeutend war.

Der sinistre Analogieschluß hatte fatale Folgen. Ich fing an, dem «her Jesus» zu mißtrauen. Er verlor seinen Aspekt als großer, komfortabler und wohlwollender Vogel und wurde mit den finstern, schwarzen Männern im Gehrock, mit Zylinder und schwarzen blank gewichsten Schuhen, die mit der schwarzen Kiste zu tun hatten, assoziiert.

Diese meine Ruminationen führten zu meinem ersten bewußten Trauma. An einem heißen Sommertag saß ich, wie gewöhnlich, allein auf der Straße vor dem Haus und spielte im Sand. Die Straße lief vor dem Haus vorbei zu einem Hügel, an dem sie emporstieg und sich oben im Wald verlor. Man konnte daher vom Haus aus eine große Strecke des Weges überblicken. Auf dieser Straße sah ich nun eine Gestalt mit breitem Hut und langem schwarzem Gewand vom Wald herunter kommen. Sie sah aus wie ein Mann, der eine Art Frauengewand trug. Die Gestalt kam langsam näher, und ich konnte feststellen, daß es tatsächlich ein Mann war, der eine Art bis auf die Füße reichenden, schwarzen Rock trug. Bei seinem Anblick befiel mich Furcht, die rasch zu tötlichem Schrecken anwuchs, denn in mir formte sich die entsetzenerregende Erkenntnis: «Das ist ein Jesuit!» Kurz zuvor hatte ich nämlich einem Gespräch zugehört, das mein Vater mit einem Amtskollegen über die Umtriebe der «Jesuiten» führte. Aus dem halb ärgerlichen, halb ängstlichen Gefühlston seiner Bemerkungen erhielt ich den Eindruck, daß «Jesuiten» etwas besonders Gefährliches, sogar für meinen Vater, darstellten. Im Grunde wußte ich nicht, was «Jesuiten» bedeutete. Aber das Wort Jesus kannte ich aus meinem Gebetlein.

Der Mann, der die Straße herunterkam, war offenbar verkleidet, dachte ich. Darum trug er Frauenkleider. Wahrscheinlich hatte er böse Absichten. Mit Todesschrecken rannte ich spornstreichs ins Haus, die Treppe hinauf bis auf den Estrich, wo ich mich unter einem Balken in einem finstern Winkel verkroch. Ich weiß nicht, wie lange ich dort blieb. Es muß aber ziemlich lange gewesen sein, denn als ich vorsichtig wieder in den ersten Stock hinunterstieg und mit äußerster Behutsamkeit den Kopf zum Fenster hinausstreckte, war weit und breit keine Spur mehr von der schwarzen Gestalt zu sehen. Der Höllenschrecken lag mir aber noch tagelang

in den Gliedern und bewog mich, im Hause zu bleiben. Und wenn ich später wieder auf der Straße spielte, so war mir doch der Waldrand ein Gegenstand unruhiger Aufmerksamkeit. Später wurde es mir natürlich klar, daß die schwarze Figur ein sehr harmloser katholischer Priester gewesen war.

Ungefähr zur selben Zeit — ich könnte nicht einmal mit absoluter Sicherheit sagen, ob es nicht vor dem eben erwähnten Ereignis war — erlebte ich meinen ersten Traum, an den ich mich erinnern kann, und der mich sozusagen mein Leben lang beschäftigen sollte. Ich war damals drei oder vier Jahre alt.

Das Pfarrhaus steht allein beim Schloß Laufen, und hinter dem Hof des Meßmers liegt eine große Wiese. Im Traum stand ich auf dieser Wiese. Dort entdeckte ich plötzlich ein dunkles, rechteckiges, ausgemauertes Loch in der Erde. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Neugierig trat ich näher und blickte hinunter. Da sah ich eine Steintreppe, die in die Tiefe führte. Zögernd und furchtsam stieg ich hinunter. Unten befand sich eine Türe mit Rundbogen, durch einen grünen Vorhang abgeschlossen. Der Vorhang war groß und schwer, wie aus gewirktem Stoff oder aus Brokat, und es fiel mir auf, daß er sehr reich aussah. Neugierig, was sich dahinter wohl verbergen möge, schob ich ihn beiseite und erblickte einen zirka zehn Meter langen rechteckigen Raum in dämmerigem Lichte. Die gewölbte Decke bestand aus Steinen, und auch der Boden war mit Steinfliesen bedeckt. In der Mitte lief ein roter Teppich vom Eingang bis zu einer niedrigen Estrade. Auf dieser stand ein wunderbar reicher goldener Thronsessel. Ich bin nicht sicher, aber vielleicht lag ein rotes Polster darauf. Der Sessel war prachtvoll, wie im Märchen, ein richtiger Königssessel! Darauf stand nun etwas. Es war ein riesiges Gebilde, das fast bis an die Decke reichte. Zuerst meinte ich, es sei ein hoher Baumstamm. Der Durchmesser betrug etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter und die Höhe etwa vier bis fünf Meter. Das Gebilde war aber von merkwürdiger Beschaffenheit: es bestand aus Haut und lebendigem Fleisch, und obendrauf war eine Art rundkegelförmigen Kopfes ohne Gesicht und ohne Haare; nur ganz oben auf dem Scheitel befand sich ein einziges Auge, das unbewegt nach oben blickte.