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Im Raum war es relativ hell, obschon er keine Fenster und kein Licht hatte. Es herrschte aber über dem Kopf eine gewisse Helligkeit. Das Ding bewegte sich nicht, jedoch hatte ich das Gefühl, als ob es jeden Augenblick wurmartig von seinem Throne herunter

kommen und auf mich zu kriechen könnte. Vor Angst war ich wie gelähmt. In diesem unerträglichen Augenblick hörte ich plötzlich meiner Mutter Stimme wie von außen und oben, welche rief: «Ja, schau ihn dir nur an. Das ist der Menschenfresser!» Da bekam ich einen Höllenschrecken und erwachte, schwitzend vor Angst. Von da an hatte ich viele Abende lang Angst einzuschlafen, weil ich fürchtete, ich könnte wieder einen ähnlichen Traum haben.

Dieser Traum hat mich Jahre hindurch beschäftigt. Erst sehr viel später entdeckte ich, daß das merkwürdige Gebilde ein Phallus war, und erst nach Jahrzehnten, daß es ein ritueller Phallus war. Ich konnte nie ausmachen, ob meine Mutter meinte «Das ist der Menschenfresser», oder «Das ist der Menschenfresser». In ersterem Fall hätte sie gemeint, daß nicht «Jesus» oder der «Jesuit» der Kinderfresser sei, sondern der Phallus; in letzterem, daß der Menschenfresser im allgemeinen durch den Phallus dargestellt sei, also daß der dunkle «her Jesus», der Jesuit und der Phallus identisch seien.

Die abstrakte Bedeutung des Phallus ist dadurch gekennzeichnet, daß das Glied für sich ithyphallisch (=aufrecht) inthronisiert ist. Das Loch in der Wiese stellte wohl ein Grab dar. Das Grab selber ist ein unterirdischer Tempel, dessen grüner Vorhang an die Wiese erinnert, hier also das Geheimnis der mit grüner Vegetation bedeckten Erde darstellt. Der Teppich war blutrot. Woher das Gewölbe? Bin ich damals schon auf dem Munot, dem Bergfried von Schaffhausen, gewesen? Nicht wahrscheinlich, man würde ein dreijähriges Kind kaum dorthin führen. Also kann es sich nicht um einen Erinnerungsrest handeln. Ebenso ist die Quelle für den anatomisch richtigen Ithyphallus unbekannt. Deutung des orificium ure thrae als Auge, und darüber anscheinend eine Lichtquelle, weist auf die Etymologie des Phallus hin ( = leuchtend, glänzend)1.

Der Phallus dieses Traumes scheint auf alle Fälle ein unterirdischer und nicht zu erwähnender Gott zu sein. Als solcher ist er mir durch meine ganze Jugend geblieben und hat jeweils angeklungen, wenn vom Herrn Jesus Christus etwas zu emphatisch die Rede war. Der «her Jesus» ist mir nie ganz wirklich, nie ganz akzeptabel, nie ganz liebenswert geworden, denn immer wieder dachte ich an seinen unterirdischen Gegenspieler als an eine von mir nicht gesuchte, schreckliche Offenbarung.

2 Ges. Werke V, 1973, pag. 279 f. 19

Die «Verkleidung» des Jesuiten warf ihren Schatten über die mir erteilte christliche Lehre. Sie erschien mir oft wie eine feierliche Maskerade, eine Art Leichenbegängnis. Dort konnten die Leute zwar eine ernsthafte oder traurige Miene aufsetzen, aber handkehrum schienen sie heimlich zu lachen und gar nicht traurig zu sein. Der «her Jesus» kam mir irgendwie als eine Art Totengott vor - zwar hilfreich, indem er nächtlichen Spuk wegschreckte, aber selber unheimlich, weil gekreuzigt und ein blutiger Leichnam. Seine mir stets gepriesene Liebe und Güte erschienen mir heimlich zweifelhaft, besonders auch darum, weil hauptsächlich Leute mit schwarzen Gehröcken und blank gewichsten Schuhen, die mich immer an Begräbnisse erinnerten, vom «lieben Herr Jesus» sprachen. Es waren die Amtskollegen meines Vaters und acht Onkel - alles Pfarrer. Sie flößten mir viele Jahre lang Angst ein - nicht zu reden von gelegentlichen katholischen Priestern, die mich an den gefürchteten «Jesuiten» erinnerten, und Jesuiten hatten sogar meinem Vater Furcht und Ärger verursacht. In den späteren Jahren bis zur Konfirmation gab ich mir zwar die größte Mühe, das geforderte positive Verhältnis zu Christus zu erzwingen. Aber es wollte mir nie gelingen, mein heimliches Mißtrauen zu überwinden.

Die Angst vor dem «schwarzen Mann» hat schließlich jedes Kind, und sie war keineswegs das Wesentliche an jenem Erlebnis, sondern es war die qualvoll in meinem kindlichen Gehirn sich durchringende Erkenntnisformulierung: «Das ist ein Jesuit.» So ist auch in dem Traum die merkwürdige symbolische Aufmachung und die erstaunliche Deutung als «Menschenfresser» das Wesentliche. Nicht das kindliche Gespenst des «Menschenfressers» ist es, sondern daß er auf unterirdischem, goldenem Throne sitzt. Für mein kindliches Bewußtsein von damals saß erstens einmal der König auf einem goldenen Thron, dann aber, auf einem viel schöneren und viel höheren und viel goldeneren Thron, weit im blauen Himmel oben, saßen der liebe Gott und der Herr Jesus mit goldenen Kronen und weißen Kleidern. Von diesem Herrn Jesus kam aber der «Jesuit», in schwarzem Weiberrock, mit einem schwarzen breiten Hut vom Bergwald herunter. Ich mußte noch oft dort hinauf sehen, ob nicht wieder Gefahr drohte.

Im Traum stieg ich hinunter in die Höhle und fand dort ein anderes Wesen auf dem goldenen Thron, unmenschlich und unterweltlich, und es blickte unverwandt nach oben und nährte sich von

Menschenfleisch. Erst volle fünfzig Jahre später brannte mir die Stelle aus einem Kommentar über religiöse Riten in die Augen, in welchem vom anthropophagischen Grundmotiv im Abendmahls symbolismus die Rede ist. Da erst wurde mir klar, wie überaus unkindlich, wie reif, ja sogar wie überreif der Gedanke ist, der sich in diesen beiden Erlebnissen zur Bewußtheit durchzuringen begann. Wer sprach damals in mir? Wessen Geist hat diese Erlebnisse ersonnen? Welche überlegene Einsicht war hier am Werk? Ich weiß, für jeden Flachkopf liegt die Versuchung nahe, vom «schwarzen Mann» und vom «Menschenfresser» und vom «Zufall» und «späterem Hineindeuten» zu faseln, um etwas schrecklich Unbequemes schnell wegzuwischen, damit ja keine familiäre Harmlosigkeit getrübt werde. Ach, diese braven, tüchtigen, gesunden Menschen, sie kommen mir immer vor wie jene optimistischen Kaulquappen, die in einer Regenwasserpfütze dichtgedrängt und freundlich schwänzelnd an der Sonne liegen, im seichtesten aller Gewässer, und nicht ahnen, daß schon morgen die Pfütze ausgetrocknet ist.

Was sprach damals in mir? Wer redete Worte überlegener Problematik? Wer stellte das Oben und das Unten zusammen und legte damit den Grund zu all dem, was die ganze zweite Hälfte meines Lebens mit Stürmen leidenschaftlichster Natur erfüllte? Wer störte ungetrübte, harmloseste Kindheit mit schwerer Ahnung reifsten Menschenlebens? Wer anders als der fremde Gast, der von Oben und von Unten kam?

Durch diesen Kindertraum wurde ich in die Geheimnisse der Erde eingeweiht. Es fand damals sozusagen ein Begräbnis in die Erde statt, und es vergingen Jahre, bis ich wieder hervorkam. Heute weiß ich, daß es geschah , um das größtmögliche Maß von Licht in die Dunkelheit zu bringen. Es war eine Art Initiation in das Reich des Dunkeln. Damals hat mein geistiges Leben seinen unbewußten Anfang genommen.